HERMOTIMUS oder VON DEN PHILOSOPHISCHEN SEKTEN LYCINUS: Soviel ich aus dem Buch unter deinem Arm und aus der Hastigkeit des Gangs schließen kann, lieber Hermotimus, scheinst du zu deinem Lehrmeister zu eilen. Man sieht dir an, daß du sogar im Gehen in Gedanken vertieft warst: du bewegtest die Lippen und gestikuliertest mit den Händen, als ob du leise mit dir selbst sprächest, um in deinem Kopf irgendeine Rede in Ordnung zu bringen, ein verfängliches Argument zu stellen oder eine sophistische Aufgabe auszudenken. Du kannst also sogar unterwegs nicht mehr müßig sein, sondern mußt immer etwas Ernsthaftes tun, um auf der Bahn der Wissenschaften immer weiter fortzuschreiten ? HERMOTIMUS: Beim Jupiter, Lycinus, es war so etwas. Ich wiederholte die gestrige Diskussion und suchte mir, so sehr ich konnte, alles, was er uns vorgetragen hatte, Wort für Wort gegenwärtig zu machen. Unsereiner darf, glaube ich, keinen Augenblick ungenützt verstreichen lassen. Denn das Leben ist kurz und die Kunst ist lang, wie der berühmte Arzt von Kos richtig sagt. Und doch meinte er es nur von der Kunst des Arztes, die doch am Ende so schwer nicht zu erlernen ist. Mit der Philosophie aber hat es eine ganz andere Bewandtnis: da kann man viele Jahre aufgewendet haben und doch nicht weit gekommen sein, wenn man die Augen nicht Tag und Nacht unverwandt und starr auf sie geheftet hat. Es ist aber auch der Mühe wert, und es steht dabei nichts Kleines auf dem Spiel. Es kommt auf nichts Geringeres an, als mit dem großen Haufen der Unwissenden zugrunde zu gehen oder durch die Philosophie glücklich zu werden. LYCINUS: Das ist freilich keine Kleinigkeit, mein guter Hermotimus, und ein Preis, der es schon verlohnt, daß man um ihn ringt! Auch denke ich, du müßtest ihm nahe sein. Wenigstens sollte man es aus der langen Zeit, die du schon auf die Philosophie verwendet hast, und aus der nicht gerin- gen Arbeit, die du schon darum hattest, billigerweise schließen dürfen. Denn wenn mich mein Gedächtnis nicht be- trügt, sind es beinahe zwanzig volle Jahre her, seitdem ich dich nichts anderes tun sehe als die Schulen der Philosophen zu besuchen, deine meiste Zeit über Büchern gebückt zu sitzen und alles, was du bei deinen Lehrern gehört hast, in großen Heften niederzuschreiben. Dafür siehst du aber auch so blaß aus und bist nichts als Haut und Knochen. Nicht einmal die Ruhe des Schlafes scheinst du dir zu gönnen, so ganz lebst du in diesen Dingen. Ich denke also, du mußt nun der Glückseligkeit, der du so eifrig zustrebst, schon sehr nahe oder vielleicht gar schon eine geraume Zeit heimlich in ih- rem Besitze sein, ohne daß wir anderen es gewahr wurden. HERMOTIMUS: Wie sollte das möglich sein, mein lieber Lycinus! Ich fange ja erst an, von ferne den Fußpfad zu er- blicken, der zu ihr führt. Denn die Tugend wohnt weit über uns auf einem hohen Felsen, wie Hesiod 91 sagt, und der Weg zu ihr ist so lang und steil und holprig, daß er den Wanderer nicht wenig Schweiß kostet. LYCINUS: Du hast also in diesen zwanzig Jahren noch nicht genug geschwitzt, Hermotimus, und bist noch immer unterwegs ? HERMOTIMUS: Noch immer, sag' ich dir. Was könnte mir verwehren, der Seligste aller Sterblichen zu sein, wenn ich schon auf dem Gipfel wäre? Ich fange aber erst an zu steigen, mein guter Lycinus. LYCINUS: Und gleichwohl sagt derselbe Hesiod, den du zitiert hast, wohl angefangen, sei halb getan. Es kann also nicht fehlen, wenn man sagt, daß du wenigstens auf halbem Wege sein mußt. HERMOTIMUS: Noch nicht einmal das, denn da wäre schon viel überstanden. LYCINUS: Wie weit bist du denn also jetzt? HERMOTIMUS: Noch am untersten Fuße des Berges, wo ich alle meine Kräfte anstrengen muß, um weiterzukommen, denn der Weg ist schlüpfrig und rauh, und man braucht jemanden, der einem die Hand reicht. LYCINUS: Das ist vermutlich dein Professor, der dich durch die Weisheitslehren, die er von längst erstiegener Höhe wie der homerische Jupiter seine goldene Kette herabläßt, zu sich und der Tugend hinaufzieht? HERMOTIMUS: Ganz richtig! Läge es nur an ihm, so wäre ich schon längst oben und bei den Glücklichen. Es fehlt an mir, daß ich noch nicht weitergekommen bin. LYCINUS: Du mußt nur den Mut nicht sinken lassen und das Ziel der Fahrt und die Götterseligkeit, die dich dort oben erwartet, nicht aus den Augen verlieren, zumal du einen so bereitwilligen Helfer hast. Und was macht er dir denn für Hoffnungen für den Aufstieg ? Glaubt er wohl, daß er dich in Jahresfrist, etwa bis zu den nächsten Mysterien oder Panathenäen, auf den Gipfel gebracht haben werde? HERMOTIMUS: Du setzest eine gar zu kurze Frist an, Lycinus. LYCINUS: Aber doch bis zur nächsten Olympiade? HERMOTIMUS: Auch das ist sehr wenig für die Übung in der Tugend und den Besitz der Glückseligkeit. LYCINUS: Nun, so laß es zwei Olympiaden sein. Aber bis dahin wenigstens mußt du oben sein, oder man hätte alle Ursache, euch großer Trägheit zu beschuldigen, wenn ihr mehr Zeit brauchtet, einen einzigen Berg zu ersteigen, als einer nötig hätte, um bequem dreimal von einem Ende der Welt zum andern zu reisen, selbst wenn er nicht den kürze- sten Weg nähme, sondern noch bei allen dazwischen liegenden Völkern herumschweifte. Um wieviel soll denn der Felsen, auf dem eure Tugend ihren Sitz hat, höher und schlüpfriger sein als die berühmte Bergfeste Aornus, die Alexander doch in wenigen Tagen im Sturm einnahm? HERMOTIMUS: Das ist nicht das gleiche, mein lieber Lycinus, du irrst gewaltig, wenn du dir einbildest, es sei eine so leichte Sache, diesen Felsen zu ersteigen, und man könne in so kurzer Zeit damit fertig werden. Und wenn zehntausend Alexander sich zugleich daranmachten, sie würden nicht weit kommen. Sonst würden wir eine Menge Leute sehen, die hinaufsteigen. Es gibt ihrer freilich nicht wenige, die einen herzhaften Anlauf nehmen. Sie schreiten auch wohl eine Strecke weiter fort, einige weniger, andere mehr. Sind sie aber ungefähr bis zur Hälfte gekommen und sehen sie, daß der Weg immer schwieriger und mühsamer wird, lassen sie sich abschrecken und kehren keuchend und von Schweiß triefend wieder um, weil sie die Ermüdung nicht länger aushalten können. Wer aber bis zum Ende durchhält, gelangt endlich auf den Gipfel und ist von diesem Augenblick an den Göttern an Seligkeit gleich. Er genießt sein ganzes übriges Leben hindurch eine wundervolle Ruhe und Heiterkeit und sieht von der Höhe, auf der er sich befindet, die übrigen Menschen nur noch für Ameisen an. LYCINUS: Behüte Gott! Zu was für winzigen Tierchen machst du uns! Ich wollte es gelten lassen, wenn du uns noch für Zwerge angesehen hättest. Uns aber so am Boden, so ganz und gar auf der bloßen Haut der Mutter Erde herumkriechen zu lassen, ist doch gar zu arg! Es ist freilich auch kein Wunder, hochgesinnt zu sein, wenn man so hoch droben ist wie du. Wir Kehricht und alle, die wir auf Erden wandeln, heben billigerweise Auge und Herz wie zu den übrigen Göttern so zu euch empor und betrachten euch als Wesen, die über den Wolken sind und die Höhe wirklich erstiegen haben, zu der sie schon so lange streben. HERMOTIMUS: Wenn nur auch ich schon droben wäre, Lycinus! Aber da haben wir noch lange zu steigen! LYCINUS: Nur wie lange, hast du mir noch immer nicht gesagt. Ich möchte doch gern eine bestimmte Zeit wissen. IIERMOTIMUS: Die weiß ich selbst nicht so genau. Doch vermute ich, daß, wenn noch zwanzig Jahre vorbei sind, ich vielleicht vollends auf dem Gipfel bin. LYCINUS: Beim Herkules! Das ist eine lange Zeit! HERMOTIMUS: Es geht aber auch um einen hohen Preis! LYCINUS: Das mag wohl sein. Was aber die zwanzig Jahre betrifft, darf ich fragen, ob dein Meister dir Gewähr dafür geleistet hat, daß du auch so lange lebst? Vermutlich ist er nicht nur ein Weiser, sondern auch ein Wahrsager und ein Prophet oder einer von denen, die sich auf die Methoden der Chaldäer verstehen und den Tod voraussagen können, wie sie es behaupten ? Denn es läßt sich doch nicht denken, daß du aufs Ungewisse hin und wenn du nicht ganz sicher wärest, deine Ankunft auf der Tugendhöhe zu erleben, dir so entsetzlich große Mühe geben und dich Tag und Nacht abplagen wolltest, da du doch nicht wissen konntest, ob dich, wenn du vielleicht nur noch ein paar Schritte bis zum Gipfel hättest, das Schicksal nicht auf einmal beim Beine kriegen und samt deiner unerfüllten Hoffnung herunterwerfen wird. HERMOTIMUS: Fort mit solchen lächerlichen Reden, Lycinus! Ich wünsche mir solange zu leben, bis ich zur Weisheit gelangt bin, und wenn ich auch nur einen einzigen Tag in ihrem Besitz glücklich sein sollte. LYCINUS: Wie? Du würdest für so viel Mühe und Arbeit mit einem einzigen Tage vorlieb nehmen? HERMOTIMUS: Ich wäre mit noch weniger zufrieden. LYCINUS: Aber woher kannst du wissen, es gehe da oben so herrlich und selig zu, daß es sich der Mühe verlohnt, deswegen soviel auszustehen, da du selbst doch noch nicht droben gewesen bist? HERMOTIMUS: Aber das glaube ich doch meinem Lehrer aufs Wort. Denn er muß es wissen, da er schon lange auf dem höchsten Gipfel ist. LYCINUS: Was du mir sagst! Um aller Götter willen, guter Hermotimus, wie sagt er denn, daß es droben aussehe und worin die Glückseligkeit bestehe, in deren Besitz man dort gelangt? Etwa in barem Geld oder in Ansehen oder in überschwänglichem Vergnügen ? HERMOTIMUS: Rede nicht so ungebührlich, Freund! Das alles hat mit dem tugendhaften Leben nichts gemein. LYCINUS: Aber was für Güter sagt er denn, daß man am Ende all der vielen Übungeil'davontrage, wenn es diese nicht sind ? HERMOTIMUS: Weisheit und Stärke des Gemüts, und was in sich selbst schön und recht ist, das Wissen um alles und die feste Überzeugung, was es mit jedem Ding für eine Bewandtnis hat. Reichtum, Wollust und alles, was unsern Körper angeht oder nur durch den Wahn des Menschen zu einem Gut gestempelt wird, das alles hat er unten gelassen und wie ein beschwerliches Gewand von sich geworfen, um desto freier und leichter emporzusteigen, auf dieselbe Weise, wie man sagt, daß Herkules zum Gott geworden sei, nachdem er sich auf dem Öta verbrannt hatte. Denn sobald er alles abgeworfen hatte, was er an Menschlichem von seiner Mutter empfangen, und das Göttliche an ihm durch das Feuer gereinigt und von allen Schlacken geschieden war, flog er zu den Göttern empor. Etwas dem sehr Ähnliches geht mit allen denen vor, die, durch die Philosophie wie durch ein läuterndes Feuer von allem, was den übrigen Menschen in ihrem falschen Wahn bewunderns- und wünschenswert scheint, gänzlich befreit, in die Höhe gestiegen sind. Sie leben fortan im Genuß der reinsten Seligkeit, erinnern sich gar nicht mehr, daß so etwas wie Reichtum, Ehre und Wollust in der Welt ist, und lachen über die Dummen, die auch nur den geringsten Wert auf solche Armseligkeiten legen. LYCINUS: Bei dem großen Herkules, der sich auf dem Öta verbrannte, Hermotimus, was du mir da von ihnen sagst, gibt mir einen hohen Begriff von der Größe und Seligkeit dieser erhabenen Wesen. Nun sage mir noch dies eine: steigen sie zuweilen von ihrer Höhe herunter, wenn sie etwa die Lust anwandelt, sich wieder der Dinge zu bedienen, die sie zurückgelassen haben, oder sind sie, wenn sie die Höhe einmal erstiegen haben, genötigt, immer dort zu bleiben, sich an der Tugend genügen zu lassen und Reichtum, Ansehen und sinnliche Freuden mit Verachtung anzusehen? HERMOTIMUS: Nicht nur das, Lycinus, sondern wer sich in der Tugend einmal vollendet hat, der kann niemals wieder in die Knechtschaft des Zorns, der Furcht oder der Begehrlichkeit geraten. Nichts kann ihn mehr betrüben, mit einem Wort, es ist gar nicht möglich, daß er jemals wieder von einer Leidenschaft befallen werden könnte. LYCINUS: Aber, wenn ich unverhohlen die Wahrheit sagen darf— doch nein! du könntest mir wieder vorwerfen, daß ich ungebührlich rede, und es wäre wohl, denke ich, gegen den Respekt, den man den heiligen Dingen schuldig ist, wenn man das Benehmen der Weisen einer Untersuchung unterziehen wollte. HERMOTIMUS: Ganz und gar nicht! Rede frei heraus, es sei, was es wolle! LYCINUS: Du siehst, lieber Freund, daß ich wirklich nur schwer darangehe - HERMOTIMUS: Das hast du nicht nötig, mein Bester, wir reden ja unter uns. LYCINUS: Ich hörte dir von Anfang an bis auf diesen letzten Punkt mit großem Vergnügen zu, lieber Hermotimus, und war wirklich bereit, zu glauben, es sei alles so, wie du sagtest, und die Leute, von denen du sprachst, würden weise, rechtschaffene und tapfere Männer, und ich beruhigte mich schon bei deinen Worten. Als du aber hinzusetztest, sie verachteten auch Reichtum, Ehre und Sinnenlust und seien von allen Leidenschaften, von Zorn und von Schmerz, denen wir übrige Menschen unterworfen sind, frei, da wurde ich stutzig. Es fiel mir nämlich etwas ein, wovon ich vor kurzem Augenzeuge gewesen war. Muß ich dir meinen Mann nennen ? Oder bist du zufrieden, wenn ich dir mit Verschweigung des Namens nur die Sache erzähle? HERMOTIMUS: Nein, sage mir lieber auch, wer es war. LYCINUS: Weil du es denn wissen willst, es war dein eigener Lehrer, übrigens ein Mann, vor dessen Wissen und hohem Alter ich den größten Respekt habe. HERMOTIMUS: Und was tat er denn, was dir so anstößig war? LYCINUS: Du kennst doch den Fremden von Heraklea, der schon so lange unter seiner Führung der Philosophie obliegt, den blonden, streitsüchtigen Menschen wie heißt er doch? HERMOTIMUS: Ich weiß, wen du meinst. Er nennt sich Dion. LYCINUS: Ganz recht! Eben diesen Menschen, der ihm vermutlich sein Honorar nicht zur rechten Zeit bezahlt hatte, schleppte er, indem er den Mantel um seinen Hals schlang, mit Gewalt vor den Richter und verklagte ihn mit großem Geschrei und voll Wut, und wenn nicht einige seiner umstehenden Bekannten ihn zum Glück weggerissen hätten, der alte Herr würde sich auf ihn gestürzt und ihm die Nase abgebissen haben, so erbost war er. HERMOTIMUS: Dion ist aber auch ein heilloser Mensch und weiß nie, wann er bezahlen muß. Mein Lehrer hat so viele andere Schuldner, denen er auf Zinsen Geld geliehen hat, und keiner kann sagen, daß ihm so etwas je widerfahren wäre; aber sie bezahlen auch ihre Zinsen auf den Tag. LYCINUS: Wenn sie aber nun nicht bezahlen, mein Bester, was kümmert das einen Mann, den die Philosophie von allen Schlacken gereinigt und der von allen den Dingen, die er auf dem Öta zurückließ, nichts mehr nötig hat? HERMOTIMUS: Du irrst dich sehr, wenn du glaubst, daß er sich um seiner selbst willen um solche Dinge kümmere. Er hat noch unerzogene Kinder, die er ernähren muß und die er doch keinem Mangel aussetzen will. LYCINUS: Er müßte aber, lieber Hermotimus, sie ebenfalls der Tugend zuführen und sie den Reichtum verachten lehren, damit sie so glückselig würden, wie er selbst ist. HERMOTIMUS: Ich habe keine Zeit, Lycinus, mit dir über diese Dinge zu diskutieren. Ich muß schnell in seine Vorlesung. Sonst könnte ich sie noch versäumen. LYCINUS: Wenn es nichts ist als das, so sei ruhig, mein Bester. Du hast heute Vakanz. Du kannst dir also den Rest des Weges ersparen. HERMOTIMUS: Was meinst du damit? LYCINUS: Daß du ihn heute nicht zu sehen bekommst, wenn anders seinem Anschlag zu glauben ist: ich sah nämlich über seiner Tür ein Täfelchen hängen, auf dem mit großen Buchstaben geschrieben stand, daß er heute keine philosophischen Disputationen veranstalte. Es hieß, er sei gestern abend hei dem großen Gastmahl gewesen, das Eukrates zu Ehren des Geburtstages seiner Tochter gab, und da er bei Tafel mächtig doziert habe, sei er mit dem Peripatetiker Euthydemus über die Punkte in einen etwas hitzigen Streit geraten, in denen sie von den Stoikern abweichen. Von dem heftigen Geschrei tue ihm nun der Kopf weh, zumal er sehr geschwitzt habe, weil die Disputationen sich mitten in die Nacht hinzogen. Er hatte, denke ich, auch mehr getrunken, als er ertragen kann, da ihm die Mitgäste, wie es zu gehen pflegt, mit zuvielen Gesundheiten zusetzten, auch mehr gegessen, als es einem Manne von seinen Jahren zuträglich ist. Wie er also wieder nach Hause kam, war sein erstes, daß er sich, wie man sagt, tüchtig übergeben mußte. Sobald er dann all die Stücke Fleisch, die er seinem, hei der Tafel hinter ihm aufwartenden Bedienten zugeschoben hatte, sich hatte vorzählen lassen und sorgfältig versiegelt hatte, habe er sich, mit dem Befehl, niemand zu ihm zu lassen, zu Bett gelegt und schlafe jetzt noch. Alles das habe ich aus dem Munde seines Bedienten Midas, der es einigen der Schüler sagte, von denen ich eine große Anzahl wieder umkehren sah. HERMOTIMUS: Wer trug denn den Sieg davon, Lycinus? Mein Professor oder Euthydemus? Hat Midas nicht auch davon etwas gesagt? LYCINUS: Eine Zeitlang, erzählt man sich, sei auf beiden Seiten mit ziemlich gleichem Erfolge gefochten worden, endlich aber habe eure Partei gesiegt, und Euthydemus sei im eigentlichen Sinne des Wortes aufs Haupt geschlagen worden. Denn er habe sich blutend und mit einem großen Loch im Kopf zurückgezogen. Da er nämlich anmaßend und geschickt in der Widerlegung war und sich weder geduldig habe fügen noch leicht habe überzeugen lassen wollen, habe ihm dein vortrefflicher Meister einen Becher, einen von den großen Nestorischen92, den er eben in der Hand hatte, an den Kopf geworfen und dadurch den Streit mit einem Schlage entschieden. HERMOTIMUS: Recht so! Wer denen, die besser sind als er, nicht nachgeben will, verdient nicht, anders behandelt zu werden. 12-13 HERMOTIMUS 257 LYCINUS: Das ist in der Tat höchst vernünftig gesprochen, Hermotimus. Was, zum Henker, muß denn auch Euthydemus angefochten haben, einen Mann, der nicht in Zorn gerät und über allen Leidenschaften erhaben ist, zu reizen, und das gerade in dem Augenblick, wo er einen so schweren Becher in der Hand hat? Doch sei dem, wie ihm wolle: wie wäre es, mein Lieber, da wir jetzt doch nichts zu tun haben, wenn du mir, deinem alten Kameraden, erzähltest, wie du zu philosophieren angefangen hast, als du den ersten Trieb dazu in dir fühltest? Ich hätte nicht übel Lust, wenn es sein könnte, mich aufzumachen und denselben Weg mit euch anzutreten. Ich will doch nicht hoffen, daß ihr euch weigert, mich mitzunehmen, da wir alte Freunde sind? HERMOTIMUS: Möchte es nur dein Ernst sein, Lycinus! Du solltest sehen, wie viel du in kurzem vor den übrigen voraushaben würdest. Du kannst es mir glauben: sie würden alle nur Schüler gegen dich scheinen, so sehr wärest du ihnen an Verstand überlegen. LYCINUS: Oh! Ich wollte zufrieden sein, wenn ich in zwanzig Jahren nur der Mann würde, der du jetzt bist. HERMOTIMUS: Das hat gute Wege! Ich war ungefähr in deinem Alter, als ich anfing zu philosophieren. Du bist doch wohl ein Vierziger, sollte ich denken ? LYCINUS: Getroffen, Hermotimus! Hier bin ich also, wenn du mich, sofern es recht und billig ist, auf denselben Weg führen willst, den du selbst gegangen bist! Erlaube mir aber vor allem eine Frage! Ist es den Studierenden bei euch erlaubt, zu widersprechen, wenn es ihnen scheint, der Lehrer sage etwas Unrichtiges? Oder gestattet ihr das den Lernenden nicht? HERMOTIMUS: Nicht so schlechterdings. Aberdu kannst dazwischen fragen,was dir beliebt, und so viele Einwände machen, als du willst. So wirst du am schnellsten Fortschritte machen. LYCINUS: Wohl gesprochen, Hermotimus, beim Hermes, dessen Namensverwandter du bist! Bitte sage mir vor allen Dingen: ist eure Stoa der einzige Weg, der zur Philosophie führt, oder gibt es, wie ich gehört habe, viele Leute, die andere Wege einschlagen ? HERMOTIMUS: Oh, sehr viele, die Peripatetiker, die Epikureer, die, die sich nach Platon nennen, die Anhänger des Diogenes und des Antisthenes, die Pythagoreer und noch verschiedene andere. LYCINUS: Gut! Und alle diese vielen Philosophen lehren das gleiche, oder sind ihre Meinungen verschieden ? HERMOTIMUS: Sogar sehr verschieden. LYCINUS: Aber gewiß nicht alle. Das Wahre, denke ich, wird bei allen wohl dasselbe sein ? HERMOTIMUS: So ist es allerdings. LYCINUS: Nun, mein Freund, wenn es so ist, möchte ich gern von dir hören, welchen Beweggrund du hattest, als du dich zuerst an das Philosophieren machtest und so viele Türen offen stehen sahst, bei den anderen vorbeizugehen und gerade der der Stoiker den Vorzug zu geben, als der einzigen, die den wahren und geraden Weg zeige, während die anderen in Abwege und Labyrinthe ohne Ausgang führen? Woran konntest du das damals erkennen ? Du mußt dich, um mir diese Frage zu beantworten, nicht als den Mann denken, der du jetzt bist, einen Halbweisen oder gar schon einen Weisen, also mehr oder weniger imstande, besser als wir andern, die zum großen Haufen gehören, den Unterschied der Dinge zu beurteilen. Damals warst du selbst noch einer vom großen Haufen, so gut wie ich es jetzt bin, und als solcher antworte mir. HERMOTIMUS: Ich verstehe nicht, wohin du damit hinaus willst, Lycinus. LYCINUS: Und ich habe doch etwas sehr Klares gefragt: da der Philosophen so viele sind, was für einen Grund hattest du, an einem Plato, einem Aristoteles, einem Antisthenes und, um bei euren eigenen Stammvätern zu bleiben, einem Chrysippus, Zeno und all den übrigen vorbeizugehen und gerade die Wahl zu treffen, die du getroffen hast, und auf die Weise zu philosophieren, wie du es tust ? Hat dich etwa der Delphische Apollo zu den Stoikern gewiesen, wie ehemals den Chärephon zum Sokrates, weil er sie für die Weisesten von allen erklärte? Denn es ist seine Art und Weise, dem einen zu dieser, dem andern zu jener philosophischen Sekte zu raten, vermutlich weil er weiß, welche für jeden am besten paßt. HERMOTIMUS: Das ist es nicht, Lycinus, ich habe den Gott dabei nicht zu Rate gezogen. LYCINUS: Etwa weil du die Sache nicht für wichtig genug hieltest, den Rat des Gottes einzuholen, oder weil du dir zutrautest, auch ohne den Gott aus dir selbst das Beste zu wählen? HERMOTIMUS: Ich meinte es wenigstens. LYCINUS: Sei also so gut und laß es das Erste sein, was ich von dir lerne: ich möchte gleich zu Anfang unterscheiden können, welches die beste und wahrhaftigste Philosophie ist und welche man mit Übergehung der übrigen wählen sollte. HERMOTIMUS: Das will ich dir sagen. Ich gab acht, welche von allen die meisten Anhänger hatte. Daraus konnte ich leicht schließen, daß diese die beste sein müsse. LYCINUS: Wieviel mehr hatte sie denn als die epikureische, platonische oder peripatetische ? Denn du wirst sie doch gezählt haben, wie man es bei einer Abstimmung zu tun pflegt. HERMOTIMUS: Gezählt nun eben nicht, ich habe sie nur geschätzt. LYCINUS: Wie ich sehe, ist dir's nicht Ernst damit, mich weiser zu machen, sondern du täuschest mich. Denn das wirst du mir doch nicht einreden wollen, du habest dich in einer so wichtigen Sache durch Mutmaßung und Stimmenmehrheit leiten lassen ? Du willst mir die Wahrheit nicht sagen. HERMOTIMUS: Das war es auch nicht allein, lieber Lycinus. Ich hörte auch jedermann sagen, die Epikureer liebten die Behaglichkeit und das Vergnügen, die Peripatetiker seien geldgierig und streitsüchtig, die Platoniker stolz und eitel. Von den Stoikern hingegen wußte man nicht genug zu rühmen, was für brave Männer sie seien, wie sie alles wüßten, und wie einer, der ihren Weg einschlage, allein König, allein reich, allein weise, kurz allein alles sei. LYCINUS: Ohne Zweifel sagten dir das andere Leute von ihnen ? Denn ihnen selbst würdest du wohl nicht geglaubt haben, wenn sie ihre Schule so herausgestrichen hätten. HERMOTIMUS: Gewiß nicht! Andere sagten es von ihnen. LYCINUS: Das waren vermutlich nicht die, die anders dachten als die Stoiker? HERMOTIMUS: Freilich nicht. LYCINUS: Also konnten es keine anderen als ungelehrte Laien sein? HERMOTIMUS: So ist's. LYCINUS: Nun ertappe ich dich schon wieder dabei, daß du mich nur zum besten hast und mir nicht die Wahrheit sagst. Du bildest dir wohl ein, du habest es mit einem einfältigen Menschen zu tun, der sich weismachen lasse, ein so verständiger Mann, wie es Hermotimus in seinem vierzigsten Jahre sein mußte, habe sich in seinem Urteil über Philosophie und Philosophen blindlings durch die Meinung Unwissender leiten lassen und die Wahl des Besseren danach getroffen, was sie sagten. Du könntest mir so etwas zehnmal sagen, ich würde dir's nicht glauben. HERMOTIMUS: Du muß aber wissen, Lycinus, daß ich es nicht bloß anderen, sondern mir selbst geglaubt habe. Ich sah sie anständig gekleidet, mit edlem Anstand einhergehen, immer in tiefen Gedanken und mit einem Gesicht voll männlichen Ernstes, meist bis auf die Haut geschoren, ohne etwas Weichliches in ihrem Wesen, aber auch ohne übertriebene Gleichgültigkeit gegen das Äußerliche, die einem das Ansehen eines Tollhäuslers oder eines ausgemachten Kynikers gibt. Ich sah sie in allem die Mitte halten, die nach allgemeinem Urteil das Beste ist. LYCINUS: Wenn du sie so genau betrachtetest, wie kommt es, daß du nicht auch sahst, was ich soeben als Augenzeuge von deinem Professor erzählte: Daß sie Wucher treiben, das Geliehene hart und ungestüm zurückfordern, in guter Gesellschaft immer streiten, und was solcher schönen Eigenschaften mehr sind, die man täglich an ihnen zu sehen Gelegenheit hat? Oder hat das alles in deinen Augen wenig auf sich, wenn nur der Anzug anständig, der Bart lang und die Haare bis auf die Haut abgeschoren sind ? Nach den Grundsätzen des weisen Hermotimus wären dann also Kleidung, Gang und Haartracht das Ideal und die Regel, nach der man beurteilen müßte, wer die vorzüglichsten Männer seien. Wer dies nicht hat, wer nicht mit finsterem Blick und tiefsinniger Stirne einhergeht, wird für untauglich erklärt und beiseite geworfen. Sieh zu, guter Hermotimus, ob du nicht schon wieder Spaß mit mir treibst und nur ausprobieren willst, ob ich klug genug bin, zu merken, daß du mich zum besten hältst! HERMOTIMUS: Wieso? LYCINUs: Weil du mich die guten Philosophen wie schöne Bildsäulen nach ihrem Gewande würdigen lehrst. Und doch würden deine Philosophen in dem, was schönen Anstand und schmucke Kleidung betrifft, gegenüber den Statuen, die ein Phidias, Alkamenes oder Myron nach der Idee des Schönsten gebildet hat, eine sehr gleichgültige Figur machen. Wenn aber, dem ungeachtet, hier die Augen entscheiden I. sollen, wie soll sich ein armer Blinder, der den Trieb zum Philosophieren in sich fühlt, helfen, da er weder die Kleidung noch die Miene noch den Gang der Philosophen sehen kann, unter denen er wählen soll? HERMOTIMUS: Ich habe es aber nicht mit Blinden zu tun — was kümmern mich die Blinden ? LYCINUS: So wichtige und für alle Menschen nützliche Dinge, bester Freund, sollten doch aber billigerweise ein Merkmal haben, an dem sie von allen Menschen erkannt werden können. Indessen mögen, weil du es so haben willst, die Blinden von der Philosophie ausgeschlossen bleiben, bis sie vielleicht sehend werden, wiewohl diese armen Leute in ihrem Unglück den Trost vielleicht nötiger hätten als andere. Aber die Sehenden selbst, wie sollen sie, wenn sie auch Luchsaugen hätten, einem Menschen an seinem äußeren Aufzug ansehen, wie er in seinem Gemüt beschaffen ist? Denn ich denke, das, was dich zu den Stoikern gezogen hat, war doch die hohe Meinung, die du von ihren inneren Vorzügen hast, und das Verlangen, durch sie an Einsicht ebenfalls vollkommener zu werden ? HERMOTIMUS: Allerdings! LYCINUS: Wie konntest du nun an jenen Merkmalen erkennen, ob einer ein wahrer Philosoph ist oder nicht? Die Eigenschaften, auf die es hierbei ankommt, scheinen nicht durch das Äußere hindurch, sondern liegen wie geheimnisvolle Dinge im Dunkeln. Man muß einen Mann oft gesprochen, lange mit ihm Umgang gehabt und das, worin er sich in seinem Handeln selbst gleichbleibt, lange beobachtet haben, bis man sie endlich ausfindig gemacht hat. Das war es, worüber Momus dem Vulkan Vorwürfe machte. Du erinnerst dich doch der Fabel ? HERMOTIMUS: Nicht eigentlich. LYCINUS: Nun, Minerva, Neptun und Vulkan stritten einst miteinander, wer von ihnen das vorzüglichste Werk hervorbringen könne. Da machte Neptun den Stier, Minerva erfand das Modell eines Hauses und Vulkan bildete den Menschen. Als sie mit ihrer Arbeit zu Momus kamen, den sie zum Schiedsrichter erwählt hätten, beschaute er das Werk jedes der drei Götter, fand aber an jedem etwas auszusetzen. Seine Einwände gegen den Stier und das Haus gehören nicht hierher. Den Vulkan tadelte er, daß er an der Brust des Menschen keine Fenster angebracht habe, durch die man in den Sitz seiner Gedanken und Gesinnungen hineinsehen und sich also immer überzeugen könne, ob das, was er sage, Verstellung oder seine wahre Meinung sei. Momus gestand durch diesen Tadel, daß er zu stumpfsinnig sei, um den Menschen zu durchschauen. Du freilich hast ganz andere Augen. Du siehst (was selbst der berühmte Lynceus nicht konnte) durch den Brustknochen eines Menschen hindurch. Sein Innerstes ist vor dir aufgetan, und du liesest nicht nur, was jeder weiß und vorhat, in seiner Seele, sondern kannst uns sogar sagen, wer der Bessere oder der Schlechtere ist. HERMOTIMUS: Du machst dich lustig über mich, Lycinus. Ich habe aber mit Gott und gutem Glück gewählt, und meine Wahl gereut mich nicht. Das ist für mich genug. LYCINUS: Aber für mich ist es nicht genug, lieber Freund. Du wirst mich doch nicht so elendiglich in dem großen Haufen Kehricht zugrunde gehen lassen wollen? HERMOTIMUS: Ist es meine Schuld? Ich kann ja nichts sagen, was dir recht wäre. LYCINUS: Das ist es nicht, mein Bester. Du willst nur nichts sagen, was mir recht sein könnte. Weil du aber so mißgünstig bist und dich vorsätzlich versteckst und nicht willst, daß ich es im Philosophieren so weit bringe wie du, will ich versuchen, ob ich aus mir selbst ein Mittel ausfindig machen kann, eine verständige und sichere Wahl zu treffen. Höre also gefälligst zu. HERMOTIMUS: Sehr gern. Vielleicht hast du etwas Vernünftiges zu sagen. LYCINUS: Das überlassse ich deinem Urteil. Du mußt mich aber nicht auslachen, wenn ich mich dabei wie ein gewöhnlicher, ungelehrter Mann benehme. Da du, der es besser weiß als ich, keine Lust hast, mich gründlicher zu belehren, muß ich mir helfen, wie ich kann. Ich will mir also einbilden, die Tugend sei eine Stadt, deren Einwohner (mit deinem Lehrmeister zu reden, der auf die eine oder andere Art da-hingekommen sein mag) samt und sonders die seligsten Menschen der Welt sind, Weise im höchsten Grade, tapfer, gerecht, mäßig, kurz, beinahe Götter. Von allen Lastern und Untaten, die bei uns so häufig vorkommen, von Räubereien, Gewalttaten und Übervorteilungen ist dort keine Spur zu sehen. So etwas kommt den Leuten dort gar nicht in den Sinn. Sie leben im Frieden und Eintracht wie eine vom Geist der Liebe beseelte Familie. Und wie sollten sie das nicht, da alles, was in anderen Städten Anlaß zu Unruhen, Parteilichkeiten und Streitigkeiten ist und weswegen die Menschen einander nachstellen und auflauern, aus dieser glücklichen Stadt gänzlich verbannt ist? Denn dort ist nichts zu sehen, was dem Geiz, der Wollust oder der Eitelkeit Nahrung geben und dadurch Streit veranlassen könnte. Sie haben alle diese Dinge als unnützes, unbrauchbares Zeug längst aus ihrer Stadt herausgeschafft und leben, wie gesagt, in schönster Ordnung, Gleichheit und Freiheit und im Genuß alles anderen Guten das heiterste und seligste Leben, das man sich nur denken kann. HERMOTIMUS: Sollten also nicht alle Menschen, die es mit sich selbst gut meinen, vor Verlangen brennen, Bürger einer solchen Stadt zu werden und sich keine Beschwerlichkeit des Weges, keine Zeit, wie lange sie auch sei, dauern lassen, wenn sie gewiß wären, nach ihrer Ankunft in die Bürgerliste eingeschrieben zu werden und an dieser Staatsordnung teilzuhaben? LYCINUS: Das denke ich auch, beim Jupiter! Man muß sich alle Mühe darum geben, Hermotimus, was könnten wir Wichtigeres zu tun haben als das? Alles übrige kommt daneben nicht in Betracht. Und wenn uns unser altes Vaterland mit noch so viel Einwänden zurückhalten wollte, wenn unsere altern ihre Kinder noch so beweglich bäten, sich an uns festklammerten und nicht aufhörten, zu weinen und zu schreien, wir dürfen uns nicht rühren lassen und könnten ihnen nur zureden, unserem Beispiel zu folgen und mit uns die gleiche Reise zu unternehmen. Wenn sie aber nicht wollten oder könnten, müßten wir uns von ihnen losreißen und, ohne einen Augenblick zu zaudern, nach dieser herrlichen Stadt wandern und selbst die Kleider von uns werfen, wenn man sich an uns hinge, um uns zurückzuhalten, nur um desto schneller dorthin zu gelangen. Denn wir haben nicht zu befürchten, daß man uns abweisen werde, selbst wenn wir ohne Kleider kämen. Du magst dich vielleicht wundern, mein Bester, wieso ich so gut über alles unterrichtet bin. Ich muß dir also sagen, daß ich es von einem alten Manne habe, der mir erzählte, wie es dort aussehe, und mir ernstlich zusetzte, ihn nach dieser Stadt zu begleiten. Er bot sich mir zum Führer an und gab mir sein Wort, daß ich das Bürgerrecht erhalten, sein Kreis-und Kultgenosse werden und gleich allen andern ein wahres Götterleben führen solle. Aus Unverstand und Jugend (denn es sind wohl fünfzehn Jahre seitdem verflossen) ließ ich mich damals leider nicht überreden. Vielleicht wäre ich jetzt schon nahe an den Vorstädten und wohl gar schon am Tor. Indessen sagte er mir viel von dieser Stadt, unter anderem, wenn ich mich recht besinne: alle Einwohner seien Fremde, die von anderen Orten dorthin zögen. Niemand werde dort als Bürger geboren. Man finde Barbaren und Sklaven, Mißgestaltete, Zwerge und Bettler - kurz, in dieser Stadt sei Bürger, wer wolle. Denn sie hätten ein Grundgesetz, daß bei der Aufnahme weder auf Vermögen noch Aussehen, weder auf Größe noch auf Herkunft und berühmte Vorfahren gesehen werden solle. Alle diese Dinge kämen bei ihnen gar nicht in Betracht. Um Bürger dieser Stadt zu werden, brauche man nichts als Verstand, Liebe zum Schönen, Arbeitsamkeit, Unverdrossenheit und eine Seele, die sich durch keine Art von Ungemach, dem man unterwegs ausgesetzt sein könne, schlaff und mürbe machen lasse. Wer sich mit diesen Eigenschaften auf den Weg mache und nicht ruhe, bis er in die Stadt gekommen sei, werde sofort zum Bürger, trete in die gleichen Rechte ein wie die anderen, wer er auch sei. Die Wörter vornehm und gering, adlig und gewöhnlich, Sklave und frei gebe es dort überhaupt nicht und würden nicht in den Mund genommen. HERMOTXMUS: Du siehst also, Lycinus, daß ich nicht umsonst und mit guten Gründen unermüdlich danach trachte, Bürger einer so schönen und glücklichen Stadt zu werden. LYCINUS: Ich kann es mir um so leichter vorstellen, als ich selbst von gleicher Begierde brenne und nichts in der Welt ist, was ich mir lieber wünschte. Wenn also die Stadt, in der wir beide so gerne wären, in der Nähe und vor jedermanns Augen läge, so kannst du versichert sein, ich hätte mich nicht lange bedacht und wäre vermutlich schon lange dort ansäßig. Da sie aber, nach deiner und des Rhapsoden Hesiod Versicherung, sehr weit von uns gelegen ist, so ist klar, daß wir uns, ehe wir uns auf den Weg machen, nach der nächsten Straße erkundigen und den zuverlässigsten Wegweiser suchen müssen. Oder bist du nicht auch dieser Meinung? HERMOTIMUS: Wie könnte einer sonst hoffen, dahin zu kommen ? LYCINUS: Wir haben mm, soweit es aufs Versprechen und Großtun ankommt, mehr als genug Wegweiser. Sie stehen an allen Ecken, und jeder will dort zu Hause sein. Erkundigt man sich aber etwas genauer bei ihnen, so kommt heraus, daß der Wege gar viele sind, und nicht nur viele, sondern auch verschiedene und einander unähnliche. Dieser führt nach Westen, jener nach Osten, ein dritter nach Norden und ein vierter wieder nach Süden. Der eine geht durch lauter ebene, lachende Auen, die von den schönsten Bäumen beschattet und mit angenehm sich schlängelnden Bächen durchzogen sind. Da ist nichts, was dem Wanderer den Weg beschwerlich oder mühsam machen könnte. Ein anderer ist dagegen voll Felsen und scharfen Steinen und läßt schon beim ersten Anblick nichts Besseres als viel Sonne, Durst und mühevolles Steigen erwarten. Und doch führen alle diese Wege, wenn sie auch nach noch so verschiedenen Richtungen gehen, zu der Stadt, die wir suchen und die nur eine ist. Hier stellt sich für mich nun meine einzige Bedenklichkeit ein. Bei jedem dieser Wege steht gleich vorn ein sehr glaubwürdiger Ehrenmann, der die Hand nach mir ausstreckt, mich zu seinem Weg einlädt und mir versichert, der seine sei der rechte und einzige, alle übrigen seien auf dem unrichtigen und könnten den ihnen Folgenden um so weniger sichere Wegweiser sein, als sie die Stadt nur vom Hörensagen kennten und nie selbst dort gewesen seien. Komme ich zum zweiten, so verspricht er mir das gleiche von dem seinen und spricht nachteilig von den anderen. Ebenso geht es mir mit dem dritten und vierten und mit allen übrigen. Das ist es nun, lieber Hermotimus, was mich beunruhigt und verlegen macht — am meisten die vielen Wegweiser, die dieser Sache wegen einander immer in den Haaren liegen, und von denen jeder allein recht haben will. Denn wo soll ich mich hinwenden, und wem soll ich folgen, um gewiß zu sein, daß ich in die Stadt komme? HERMOTIMUS: Aus dieser Verlegenheit will ich dir heraushelfen, lieber Lycinus. Glaube denen, die den Weg schon gemacht haben, dann kannst du nicht fehlgehen. LYCINUS: Welche meinst du? Welchen Weg müssen sie gegangen sein und mit welchem Führer? Denn da zeigt sich uns schon wieder dieselbe Schwierigkeit in anderer Gestalt, wenn wir von den Wegen zu den Personen kommen. HERMOTXMUS: Was willst du damit sagen ? LYCINUS: Daß der, der zum Beispiel den Weg Platos ge- gangen ist und ihn zum Geleitsmann gehabt hat, natürlich seinem Wege alles mögliche Gute nachsagen wird, ebenso der Epikureer dem seinigen, ein anderer einem anderen, .du dem eurigen und so fort. Wie sollte es anders sein können, Hermotimus? HERMOTIMUS: Warum sollte es anders sein ? LYCINUS: Weil du mich noch immer nicht aus der Verlegenheit gezogen hast. Denn ich weiß noch immer nicht, welchem von den Wanderern ich mehr glauben soll. Ich sehe, daß ein jeder von ihnen, so wie sein Führer nur einen einzigen Weg ausprobiert hat, den preist und mir versichert, er allein führe nach der Stadt. Wie kann ich nun wissen, ob er die Wahrheit sagt? Daß er endlich irgendwohin gekommen sei und irgendeine Stadt gefunden habe, will ich ihm allenfalls zugehen. Ob es aber die rechte sei, die, in der du und ich Bürger zu werden wünschen, oder ob er, der nach Korinth gehen sollte, nach Babylon geraten sei und sich doch einbilde, in Korinth gewesen zu sein, das ist noch immer nicht aus- gemacht. Denn wenn man eine Stadt gesehen hat, hat man darum noch nicht Korinth gesehen. Denn Korinth ist nicht die einzige Stadt dieser Welt. Was meine Verlegenheit aber aufs höchste steigert, ist, daß ich weiß, es könne notwendig nur ein Weg der rechte sein, weil es nur ein Korinth gibt, und die übrigen eher an jeden anderen Ort führen als nach Korinth. Denn so unsinnig kann ich doch nicht sein, mir einzubilden, daß ich auf dem Wege zu den Hyperboreern oder Indern nach Korinth komme. HERMOTIMUS: Das, dächte ich, ist sehr handgreiflich! Jeder Weg führt anderswohin. LYCINUS: Du begreifst nun wohl auch, mein trefflicher Hermotimus, daß zur Wahl der Wege und Führer etwas mehr Überlegung gehört, als du dachtest, und daß es nicht damit getan ist, der Nase nach zu gehen, wie man zu sagen pflegt, oder wohin unsere Füße uns tragen. Denn wir könnten dann leicht statt auf den, der nach Korinth führt, auf den Weg nach Babylon oder Baktra geraten. Es wäre auf keine Weise wohlgetan, uns auf unser gutes Glück zu verlassen, in der Hoffnung, es werde den rechten für uns gewählt haben, welchen auch immer wir aufs Geratewohl eingeschlagen haben möchten, wiewohl ein solcher Glücksfall nicht unmöglich ist und, seitdem die Welt steht, sich vielleicht auch schon einmal zugetragen haben kann. Aber wir, Freund Hermotimus, sind zu vernünftig, den guten oder schlechten Erfolg einer so wichtigen Angelegenheit auf ein so ungewisses Spiel zu setzen und unsere Erwartung auf einen zu engen Raum zu beschränken und zu hoffen, in einem Weidenkorb auf das Ägäische oder Ionische Meer hinausfahren zu dürfen, wie das Sprichwort sagt. Der Zufall, mein Freund, ist ein blinder Schütze, und wir können es ihm nicht übelnehmen, wenn er auf den ersten Schuß unter den unzähligen Lügen nicht das eine Wahre trifft. Sogar der große Bogenschütze bei Homer93 (Teukros, glaube ich) durchschoß, statt die Taube zu treffen, nach der geschossen werden sollte, die Schnur, an der sie aufgehängt war. Es ist immer sehr viel wahrscheinlicher, daß der blindlings abgeschossene Pfeil eine der vielen Täuschungen erreiche und treffe als das einzig Wahre. Die Gefahr ist also, wie du selbst ahnen wirst, nicht klein, daß wir uns auf einen der falschen Wege verirren, wenn wir glauben, das Glück wähle für uns den einzig richtigen Weg. Denn — um mich eines anderen Vergleichs zu bedienen — wenn sich einer mit dem ersten besten Wind in die offene See hinausgewagt hat, steht es nicht in seiner Gewalt, nach Belieben wieder umzukehren und sich in Sicherheit zu bringen, sondern er muß es sich gefallen lassen, zu den Beschwerden der Seekrankheit meist auch noch Angst und wegen des Schwankens Kopfschmerzen auszustehen, was er sich hätte ersparen können, wenn er, ehe er den Hafen verließ, auf irgendeine Warte gestiegen wäre und beobachtet hätte, wo der Wind herkommt, und ob er denen, die nach Korinth fahren wollen, förderlich und günstig sei. Daß er sich überdies auch mit einem tüchtigen Schiff, das solchen Wogenschwall aushalten könne, und mit dem besten Steuermann zu versehen habe, der nur irgend zu haben sei, versteht sich von selbst. HERMOTIMUS: Das alles ist gar keine Frage, Lycinus. Und ebenso gewiß bin ich, daß du bei allen im Kreise herumgehen und keinen besseren Führer und erfahreneren Steuermann finden kannst als meine Stoiker. Wenn du also (um bei deinem Vergleich zu bleiben) so große Lust hast, nach Korinth zu gehen, dann rate ich dir, ihnen zu folgen und in die Fußstapfen des Chrysippus und Zeno zu treten. Sonst wird nie etwas daraus werden. LYCINUS: Wie kannst du mir so einen Gemeinplatz sagen, Lycinus? Das gleiche sagen mir ja auch die Platoniker, die Epikureer und alle anderen. Jeder von ihnen würde behaup- ten, ich würde nur mit einem von ihnen nach Korinth kommen können. Ich muß also entweder allen glauben oder keinem, und da ja jenes lächerlich oder vielmehr unmöglich ist, wird das letztere wohl solange das Sicherste sein, bis wir den gefunden haben, der uns für sein Versprechen Gewähr leisten kann. Oder setze den Fall, ich ließe mich, in der Ungewißheit, in der ich mich zur Zeit befinde, durch unsere Freundschaft und das Vertrauen, das du bei mir hast, verleiten, auf das Wort meines guten Freundes Hermotimus, der den Weg der Stoiker geht, diesen zu wählen. Und nun fiele es irgendeinem Gotte ein, den Pythagoras, Plato, Aristoteles und so weiter ins Leben zurückzurufen, und sie kämen alle auf mich zu und fragten mich aus oder zögen mich gar vor den Richter und stellten eine Klage gegen mich an : was wollte ich einem jeden von ihnen antworten, wenn er sagte: «Was kam dir in den Sinn, edler Lycinus, oder von wem ließest du dich bereden, Leute von gestern und vorgestern, wie Zeno und Chrysippus, uns, die wir so viel älter sind, vorzuziehen, ohne auch nur ein Wort mit uns gewechselt oder dich genauer erkundigt zu haben, was wir sagen ?» Würde ich wohl damit auskommen, wenn ich ihnen antwortete, ich hätte es auf den Rat meines Freundes Hermotimus getan? Würden sie nicht unfehlbar erwidern : «Dein Freund Hermotimus mag unsertwegen ein ganz guter Mann sein, aber wir kennen ihn so wenig, als er uns kennt, und du hast dich sehr übereilt, guter Lycinus, auf das bloße Wort eines Mannes hin, der nur eine Art zu philosophieren kennt und auch sie vielleicht nicht hinlänglich, uns übrigen den Prozeß zu machen und uns abwesend und ungehört zu verurteilen. Die Gesetzgeber schreiben den Richtern ein ganz anderes Verfahren vor: es sei ihre Pflicht, sagen sie, beide Teile anzuhören, um durch Vergleichung dessen, was jeder für sich selbst und gegen den andern zu sagen hat, desto eher hinter die Wahrheit zu kommen. Wenn ein Richter diese Pflicht vergessen hat, so gestatten sie, von ihm an ein anderes Gericht zu appellieren.» Das oder etwas Ähnliches würden sie zweifellos sagen. Und wenn mich dann einer von ihnen noch besonders vornähme und mir die Frage vorlegte: «Sage mir doch einmal, Lycinus, wenn ein Äthiopier, der nie aus seinem Lande herausgekommen ist und in seinem Leben keine Menschen gesehen hat, wie wir es sind, mitten unter seinen Landsleuten aufträte und ihnen zuversichtlich versicherte, alle Menschen auf der Erde seien schwarz, und es gebe nirgends weiße oder braungelbe, würden sie ihm da wohl glauben ? Oder könnte ein alter Äthiopier aufstehen und sagen : «Woher willst du das alles wissen, du Frechling? Du bist doch nie in deinem Leben außer Landes gewesen und kannst gar nicht wissen, wie es bei anderen aussieht!» Was meinst du, Hermotimus ? Hätte der alte Mann nicht recht gehabt ? HERMOTIMUS: Vollkommen recht! Und der andere hätte mehr als verdient, so gescholten zu werden, dünkt mich. LYCXNUS: So dünkt es mich auch. Aber ob dir das, was nun folgt, auch so richtig scheint, weiß ich nicht. Mir allerdings ist es sehr einleuchtend. HERMOTXMUS: Was wäre das ? LYCXNUS: Weiter nichts, als daß jener alte Philosoph fortfahren und sagen könnte: «Setzen wir den ähnlichen Fall, Lycinus, einer, wie dein Freund Hermotimus da, der in seinem Leben nie aus der Stoa herausgekommen ist und weder Platons Akademie noch die Gärten Epikurs noch den Bereich irgendeiner anderen philosophischen Schule besucht hat, versicherte, es sei nirgends so schön als in der Stoa, nur was sie sage, sei wahr, nur in ihr habe man die rechten Begriffe von den Dingen, müßte uns dieser Mann nicht verwegen und unbesonnen vorkommen, weil er über alle Philosophenschulen urteilt, obwohl er nur eine kennt, also jenem Äthiopier gleich ist, der seinen Fuß nie außer Landes gesetzt hat ?» Was soll ich da dem Alten antworten, Hermotimus ? HERMOTIMUS: Der Alte hat vollkommen recht. Was freilich mich angeht, so verlege ich mich zwar hauptsächlich auf die stoische Philosophie, ich bin aber auch in den Lehren der übrigen Schulen nicht unerfahren. Denn unser Lehrer trägt uns auch diese bisweilen vor, um sie desto besser widerlegen zu können. LYCINUS: Und meinst du denn, die Philosophen um Plato, Pythagoras und Epikur und die übrigen würden das stillschweigend hinnehmen ? Werden sie mir nicht vielmehr ins Gesicht lachen und sagen: «Wo denkt dein Freund Hermotimus hin, Lycinus, daß er sich einbildet, sich darauf verlassen zu können, unsere Gegner würden ihm unsre Lehrsätze und Beweise so vortragen, wie sie sind, und ihnen nicht vielmehr, weil sie ihn nicht kennen oder weil sie ihren wahren Gehalt verbergen wollen, einen großen Teil ihrer Stärke entziehen ? Wenn ein Athlet, um sich ein wenig in Atem zu setzen, bevor der Kampf beginnt, mit einem eingebildeten Gegner fechten und mächtige Faust- und Fersenschläge in die Luft austeilen würde, als ob er sie seinem Gegner gäbe, wird ihn der Kampfrichter darum gleich durch öffentlichen Ausruf für unüberwindlich erklären lassen ? Wird er nicht vielmehr diese Fechtübungen für das ansehen, was sie sind, für eine ebenso leichte als ungefährliche Spielerei, da ja niemand Widerstand leistet, ihm den Sieg aber nur dann zuerkennen, wenn er mit dem Gegner selbst gekämpft hat und Meister über ihn geworden ist und dieser sich für überwunden bekennen muß ? Hermotimus soll sich also ja nicht einbilden, seine Lehrmeister hätten, weil sie mit ihren Spiegelfechtereien so leicht mit uns Abwesenden fertig werden, uns wirklich überwunden, und unsere Systeme wären so schlecht gebaut, daß es leicht sei, sie umzuwerfen ! Sie machen es mit ihren Widerlegungen wie die Kinder, die es nicht viel Mühe kostet, die Häuschen, die danach auch ge- baut sind, wieder einzureißen, oder wie die Anfänger im Pfeilschießen, die einen Strohwisch auf eine Stange stecken, um in sehr kleiner Entfernung danach zu schießen, und wenn sie dann einmal treffen und den Strohwisch durchstechen, ein großes Freudengeschrei erheben, als ob es eine große Tat wäre, einen Pfeil durch einen Bündel Haferstroh zu schießen. Die persischen und scythischen Bogenschützen machen es so nicht. Erstens schießen sie meist im Galopp, und dann wollen sie auch, daß das, wonach sie zielen, in Bewegung sei, nicht daß es stehe und den Pfeil erwarte, sondern daß es ihm, so schnell es kann, zu entrinnen suche. Sie schießen daher meistens wilde Tiere, und viele von ihnen treffen einen Vogel im Flug. Wollen sie aber zur Übung nach einem festen Ziel schießen, dann stellen sie eine hölzerne Schale auf, die der Gewalt des Schusses widersteht, oder einen Schild aus ungegerbter Kuhhaut und sind sicher, daß, wenn sie diese durchschießen können, ihre Pfeile auch durch einen Helm oder Harnisch gehen. Sage also deinem Hermotimus in unserem Namen, seine Lehrmeister schössen nur nach Strohwischen und rühmten sich, bewaffnete Männer erlegt zu haben, oder sie kämpften gegen Schattenrisse, die uns vorstellen sollen, und wenn sie, wie natürlich, Herr über sie geworden sind, prahlten sie, als ob sie uns zu Boden geworfen hätten. Und doch ist keiner unter uns, der zu ihnen nicht sagen könnte, was Achilles von Hektor gesagt hat: ,Sie sind nur trotzig, weil sie die Stirn meines Helmes nicht sehen.» Dies, mein Lieber, würden sie alle samt und sonders sagen. Plato könnte uns allenfalls für seine Person noch ein hierhergehöriges Histörchen aus Sizilien erzählen, wo er sehr bekannt war. Der König Gelon von Syrakus, sagt man, habe, ohne es zu wissen, aus dem Munde gerochen, weil niemand sich unterstanden habe, es ihm, einem Tyrannen, zu sagen, bis schließlich eine Ausländerin in einer vertrauten Stunde sich herausgenommen habe, ihm zu sagen, wie es damit sei. Gelon sei daraufhin zu seiner Gemahlin gegangen und habe ihr heftige Vorwürfe gemacht, daß sie ihm nichts davon gesagt habe, obwohl sie es doch schon lange gewußt haben müsse. Sie aber habe sich damit entschuldigt, sie habe geglaubt, alle Männer röchen so, weil sie in ihrem Leben keinen andern Mann kennengelernt und ihm so nahe gekommen sei, um ihres Irrtums gewahr zu werden. Gerade so, würde Plato sagen, geht es deinem Hermotimus. Da er immer nur mit Stoikern gelebt hat, kann er natürlich nicht wissen, wie es um uns andere steht. Eben diesen, vielleicht einen noch größeren Vorwurf könnte mir mit gleichem Recht euer Chrysippus machen, wenn ich mich, ohne mir ein Urteil über ihn zu bilden, zu den Platonikern schlagen und ausschließlich Männern glauben wollte, die nur Plato kennen. Mit einem Wort, ich behaupte, solange es nicht ausgemacht ist, welche unter den philosophischen Schulen die wahre ist, dürfe man keine wählen, weil dies offenbar eine Beleidigung aller übrigen ist. HERMOTIMUS: Ich bitte dich um alles in der Welt, Lycinus, lassen wir Plato und Aristoteles, Epikur und ihresgleichen beiseite und ruhen. Es ist meine Sache nicht, mich mit solchen Kämpfern zu messen. Auch bedarf es dessen nicht. Wir beide, du und ich, können doch wohl durch uns selbst ausmachen, ob die Philosophie das ist,wofür ich sie halte. Wozu haben wir nötig, die Mohren aus Äthiopien und Gelons Gemahlin von Syrakus in unser Gespräch hereinzuziehen ? LYCINUS: Sie sollen auf der Stelle wieder ihrer Wege gehen, wenn du sie bei unserer Unterhaltung überflüssig findest. Du hast, wie es scheint, etwas Großes vorzubringen! Ich bin ganz Ohr. Laß hören, Hermotimus ! HERMOTIMUS: Mich dünkt, Lycinus, jemand, der auch nur die Lehren der Stoiker wohl erfaßt habe, könne sich dadurch von ihrer Richtigkeit überzeugen, ohne daß er eine ausführliche Kenntnis von den übrigen Systemen zu haben brauche. Mein Beweis ist ganz einfach. Wenn dir jemand weiter nichts sagte, als zwei mal zwei mache vier, hättest du dann nötig, bei allen Rechenmeistern herumzugehen und dich bei ihnen Mann für Mann zu erkundigen, ob nicht einer unter ihnen behaupte, zwei mal zwei seien fünf oder sieben. Oder würdest du auf der Stelle sehen, daß der Mann recht hat ? LYCINUS: Auf der Stelle, Hermotimus. HERMOTIMUS: Wie kannst du es nun für möglich halten, daß einer, der die Wahrheit zufälligerweise nur von den Stoi- kern gehört hat, sich von ihnen überzeugen läßt und die übrigen nicht weiter braucht, da er nun einmal weiß, daß vier nicht fünf werden kann, wenn auch noch so viele Plato und Pythagoras das Gegenteil behaupteten ? LYCINUS: Das paßt nicht hierher, guter Hermotimus. Du vergleichst ausgemachte Dinge mit solchen, die umstritten sind, und das macht einen großen Unterschied. Oder hast du jemals einen gekannt, der behauptet hätte, zwei mal zwei seien sieben oder elf? HERMOTIMUS: Wer so etwas sagte, wäre nicht bei Sinnen. LYCINUS: Nun beschwöre ich dich bei allen Grazien : sei so aufrichtig und sage mir, ob du jemals mit einem Stoiker und einem Epikureer zusammen gewesen bist, die über Anfang und Ende9ö nicht in Streit geraten wären? HERMOTIMUS: Allerdings nicht. LYCINUS: Siehst du nun, mein vortrefflicher Freund, wie du mich durch Trugschlüsse zu hintergehen suchst ? Von einem Freunde sollte man so etwas nicht erwarten! Unsere Frage ist, welche philosophische Schule die Wahrheit auf ihrer Seite habe. Du versicherst das von vornherein von den Stoikern, weil sie es seien, die zwei mal zwei als vier anerkennen. Und doch ist das durchaus nicht ausgemacht. Denn die Epikureer und Platoniker könnten sagen : sie rechneten freilich so, aber ihr gäbet zwei mal zwei für sieben oder fünf aus. Oder tut ihr wohl etwas anderes, wenn ihr behauptet, das Schöne und Edle allein sei gut, die Epikureer hingegen: nichts sei gut, als was angenehme Empfindungen gewähre ? Oder wenn ihr alles, was ist, für materiell erklärt, Plato hingegen auch etwas Unkörperliches in den Dingen annimmt ? Es ist also, wie gesagt, eine ungebührliche Anmaßung, wenn du den Stoikern als etwas Unwidersprechliches und völlig Ausgemachtes ausschließlich zusprichst, was euch alle übrigen doch streitig machen und sich selbst zuweisen, was also einer genauen Untersuchung recht zu bedürfen scheint. Denn wäre es außer Zweifel, daß die Stoiker die einzigen sind, die zwei mal zwei für vier ausgeben, dann müßten die anderen freilich schweigen. Solange aber eben darüber gestritten wird, müssen alle gleich angehört werden, oder wir werden uns den Vorwurf zuziehen, daß wir Gunst vor Recht gehen lassen. HERMOTIMUS: Du scheinst mir nicht recht erfaßt zu haben, was ich sagen wollte, lieber Lycinus. LYCXNUS: So erkläre doch deutlicher, wenn du etwas anderes sagen wolltest, als du gesagt hast. HERMOTIMUS: Du wirst sogleich merken, was ich meine. Nehmen wir an, zwei Leute seien in einen Tempel des Bacchus oder Äskulap gegangen, und gleich darauf werde von den Priestern eine Trinkschale vermißt. Man wird also diese beiden durchsuchen müssen, um zu sehen, welcher von ihnen die Schale unter seinem Gewande habe. LYCINUS: Allerdings. HERMOTIMUS: Einer von beiden muß sie doch haben. LYCINUS: Das kann nicht anders sein, wenn sie vorher da war und nun nicht mehr da ist. HERMOTIMUS: Wenn man sie nun bei dem einen findet, braucht man den andern nicht mehr zu entkleiden, denn der kann sie doch unmöglich haben. LYCINUS: Gewiß nicht. HERMOTIMUS: Und wenn wir sie bei dem einen nicht finden, so hat sie unfehlbar der andere, und es bedarf keines weiteren Suchens. LYCINUS: So ist es. HERMOTIMUS: Wenn wir die Trinkschale also bei den Stoikern fänden, sollten wir uns ohne Bedenken die Mühe ersparen können, eine scharfe Untersuchung bei den anderen anzustellen. Wir haben ja, was wir längst suchten. Wozu sollten wir uns weiter abmühen? LYCINUS: Ganz gewiß, vorausgesetzt, daß ihr sie gefunden habt und wißt, es sei die nämliche, die ihr vermißt hattet, oder daß das Weihgeschenk als solches überhaupt kenntlich war. Aber, lieber Freund, fürs erste sind nicht bloß ihrer zwei, sondern sehr viele in den Tempel gegangen. Zweitens ist das, was vermißt wird, nicht bekannt. Man weiß nicht, ob es eine Schale oder ein Becher oder ein Kranz ist. Jeder von den Priestern sagt etwas anderes, und sie stimmen nicht einmal in der Materie überein: der eine sagt, das Verlorene sei von Bronze, der andere von Silber, der dritte von Gold, der vierte von Zinn. Man muß also alle durchsuchen, die in den Tempel gekommen sind, wenn man den verlorenen Gegenstand wiederbeschaffen will. Und wenn man auch gleich bei dem ersten eine goldene Schale fände, müßten alle übrigen doch auch noch ausgezogen werden. HERMOTIMUS: Warum das, Lycinus? LYCINUS: Weil es ungewiß ist, ob das, was vermißt wird, eine Schale ist. Und wenn auch alle hierin übereinstimmen, so sind sie doch nicht einig, daß es eine goldene ist. Gesetzt aber auch, es wäre ausgemacht, daß eine goldene Schale verlorengegangen ist, und du hättest eine goldene Schale bei dem ersten gefunden, müßten die übrigen doch durchsucht werden. Denn es gibt der goldenen Schalen mehr, und noch wissen wir nicht, ob die gefundene die ist, die dem Gotte gehört. Oder glaubst du nicht, daß es viele goldene Schalen gibt ? HERMOTIMUS: Natürlich gibt es die. LYCINUS: Es ist also klar, daß man einen jeden durchsuchen und alles, was man bei jedem gefunden hat, an einer Stelle niedergelegt werden muß, um dann, wenn möglich, herauszubringen, was von allen diesen Stücken dem Tempel gehören könnte. Die Untersuchung wird nämlich um so schwieriger, weil man bei jedem der Ausgezogenen etwas gefunden hat: bei dem einen einen Becher, dem andern eine Schale, dann einen Kranz, und zwar bei diesem von Bronze, bei einem anderen von Gold, einem dritten von Silber. Was von allem dem Gott gehört, ist noch immer nicht sicher, und es bleibt unentschieden, wen man Tempelräuber heißen muß, weil selbst in dem Falle, daß alle dasselbe hätten, der Täter ungewiß wäre. Ist es doch möglich, daß jeder das, was bei ihm gefunden wurde, als rechtmäßiges persönliches Eigentum besaß. Die Ursache dieser Ungewißheit aber ist, scheint mir, keine andere, als daß die vermißte Schale keine Aufschrift hat. Stünde der Name des Gottes oder des Stifters darauf, würde man weniger Umstände haben. Wenn man die mit der Aufschrift gefunden hätte, ließe man die übrigen ohne weitere Untersuchung und Belästigung ihres Weges gehen. — Vermutlich hast du schon oft Gelegenheit gehabt, Hermotimus, öffentlichen Wettkämpfen zuzusehen ? HERMOTIMUS: Das kannst du dir leicht denken. Oft genug und an vielerlei Orten. LYCINUS: Bist du etwa auch schon nahe bei den Kampfrichtern gesessen ? HERMOTIMUS: Ja, beim Zeus, erst neulich bei den Olympischen Spielen saß ich linker Hand von den Hellanodiken, weil Euandrides von Elea mir seinen Platz unter den Eleaten abtrat. Ich wollte nämlich gern einmal genau sehen, was diese Kampfrichter zu tun haben. LYCINUS: Du weißt auch, auf welche Art sie durch das Los ausmachen, wen ein jeder Ringer und Faustkämpfer zum Gegner haben soll? HERMOTIMUS: Allerdings weiß ich das. LYCINUS: Du kannst es also am besten sagen, da du so nahe zugesehen hast. HERMOTXMUS: In den ältesten Zeiten, als noch Herkules diese Spiele präsidierte, waren Lorbeerblätter . . . . LYCINUS: Ich bitte dich, guter Hermotimus, nichts von den alten Zeiten! Sage mir nur, was du mit eigenen Augen gesehen hast. HERMOTIMUS: Die Kampfrichter haben eine dem olympischen Jupiter geheiligte silberne Urne vor sich stehen. In sie werden eine Anzahl kleiner Lose, ungefähr von der Größe einer Wolfsbohne, geworfen. Auf zweien steht der Buchstabe A, auf zwei anderen ein B, auf noch zwei anderen C und so weiter, je nachdem mehr oder weniger Kämpfer vorhanden sind. Zwei Lose haben immer denselben Buchstaben. Ein Kämpfer geht nun nach dem anderen an die Urne, richtet sein Gebet an Jupiter und zieht dann eines der Lose heraus. Neben einem jeden steht ein Büttel, der ihm die Hand zuhält und nicht gestattet, den Buchstaben anzusehen, den er herausgezogen hat. Wenn nun alle gezogen haben, geht der Alytarch oder einer von den Kampfrichtern selbst (ich kann mich dessen nicht mehr so genau erinnern) von einem zum andern, so wie sie im Kreise um die Urne herumstehen, besieht die gezogenen Lose und stellt dann die Kämpfer, die einerlei Buchstaben gezogen haben, paarweise zusammen. So wird verfahren, wenn die Wettkämpfer eine gleiche Zahl, also vier, acht, zwölf ausmachen. Ist ihre Anzahl aber ungleich, zum Beispiel sieben, neun, fünfzehn, so wird auch ein ungerades Los mit einem einzelnen Buchstaben, der keinen seinesgleichen hat, in die Urne geworfen. Wer dieses gezogen hat, setzt sich und wartet, bis die anderen gekämpft haben, und es wird für kein geringes Glück eines Kämpfers angesehen, wenn ihm das Los zufällt, bei noch frischen Kräften schon ermüdete Gegenkämpfer zu bekommen. LYCINUS: Halt ein! Denn das ist es, was wir jetzt nötig haben. Es sollen also zum Beispiel ihrer neun sein, und sie haben alle ihr Los gezogen. Geh also herum (denn ich will dich von einem bloßen Zuschauer zum Hellanodiken machen) und beschau die Buchstaben. Vermutlich wirst du alle neun sehen und vergleichen müssen, ehe du wissen kannst, wer der unter ihnen ist, der sich zu den Kampfrichtern setzen darf. Ob wir also den, der die heilige Schale hat, oder den Wettkämpfer, der sich zu den Kampfrichtern setzen darf, oder den Weg suchen, der uns am sichersten nach Korinth führt, wir sind immer genötigt, alles zu untersuchen, sorgsam zu prüfen und zu vergleichen. Nur auf diese Weise und nicht ohne Mühe wird man das Richtige ausfindig machen. Wenn ich also einem Ratgeber über die Wahl einer philosophischen Schule trauen sollte, könnte es nur einer sein, der sich mit allen genau bekannt gemacht hat. Die anderen kann ich nicht brauchen, und ich würde ihnen nicht trauen, wenn ihnen auch nur eine einzige fremd wäre; denn wie leicht könnte gerade diese einzige die beste sein! Wenn wir den schönsten aller Menschen suchten, und jemand führte uns einen schönen Menschen vor und versicherte uns, der sei der schönste, würden wir ihm wohl glauben, wenn wir nicht wüßten, daß er alle Menschen gesehen hat? Denn, da es uns nicht bloß um einen schönen, sondern um den schönsten zu tun wäre, hätten wir nichts getan, wenn wir nicht diesen letzteren fänden. Wir würden uns nicht mit dem ersten besten, der uns in den Weg liefe, abfinden lassen, wie schön er auch wäre, weil wir die höchste und vollkommenste Schönheit suchten, welche notwendig eine ist. HERMOTIMUS: Richtig. LYCINUS: Solltest du mir nun jemanden nennen können, der alle Wege in der Philosophie versucht, die verschiedenen Lehrbegriffe des Pythagoras, Plato, Aristoteles, Chrysip, Epikur und der übrigen vollkommen begriffen und geprüft und am Ende den Weg ausfindig gemacht hat, von dem er durch Theorie und Erfahrung überzeugt ist, daß es der wahre und einzige ist, der zur Glückseligkeit führt? Denn sobald wir diesen Mann gefunden haben, wollen wir uns weiter keine Mühe geben. HERMOTXMUS: Der dürfte schwer zu finden sein, Lycinus! LYCINUS: Wie fangen wir es nun also an, Hermotimus? Wir wollen, denke ich, doch darum noch nicht verzagen, weil wir einen solchen Führer nicht gleich bei der Hand haben. Das Beste und Sicherste ist doch wohl, daß ein jeder sich selbst daran macht, von einer Schule zur anderen zu gehen und sich genau zu erkundigen, was jede von ihnen lehrt. HERMOTIMUS: Man sollte es denken, wenn nur nicht das im Wege stünde, was du gerade vorhin sagtest: daß es, wenn man sich einmal mit ausgespanntem Segel dem Wind überlassen hat, nicht leicht ist, wieder zurückzukehren. Wie soll einer alle Wege durchlaufen, wenn er, wie du selbst gestehst, gleich auf dem ersten festgehalten wird? LYCINUS: Das will ich dir sagen. Wir müssen es machen wie Theseus und uns, ehe wir uns in dieses Labyrinth wagen, von irgendeiner gutherzigen Ariadne einen Faden geben lassen, mittels dessen wir uns wieder herauswinden können. HERMOTIMUS: Und wo wollen wir diese Ariadne finden oder wo einen solchen Faden hernehmen ? LYCINUS: Nur getrost, mein Freund! Mich dünkt, ich habe etwas gefunden, womit wir uns schon helfen wollen. HERMOTXMUS: Und was wäre das? LYCINUS: Es ist keine Erfindung von mir! Ich habe es einem weisen Manne abgeborgt, kurz, es besteht in den drei Worten: «Sei nüchtern und glaube nicht leicht"!» Wenn wir nicht gleich alles glauben, was uns der Lehrer vorsagt, sondern uns als Richter dabei verhalten, die auch die übrigen zur Sprache kommen lassen, wenn die Reihe an sie kommt, so ist wohl zu vermuten, daß wir uns ohne Schwierigkeit aus dem Labyrinth retten. HERMOTIMUS: Dein Rat ist gut! So wollen wir's machen! LYCINUS: Es bleibt dabei! Bei wem wollen wir nun den Anfang machen? Oder ist das gleichgültig? Um mit dem ersten besten anzufangen, etwa mit Pythagoras, wieviel Zeit brauchen wir wohl, um den ganzen Kreis der pythagoreischen Philosophie zu durchlaufen? Ich dächte, die fünf Jahre des Stillschweigens mit eingerechnet, dürften wir wohl in dreißig Jahren damit fertig werden können? Oder scheint dir das zu viel, so laß es zwanzig sein. HERMOTIMUS: Es mag bei zwanzig bleiben. LYCINUS: Dann werden wir Plato natürlich ebensoviel geben müssen, und Aristoteles wird sich auch nicht mit weniger abfinden lassen. HERMOTIMUS: Gewiß nicht. LYCINUS: Wieviel Chrysippus braucht, will ich dich nicht erst fragen. Ich habe noch nicht vergessen, daß du vierzig Jahre kaum für ausreichend hieltest. HERMOTIMUS: So ist es! LYCINUS: Und sollten dann Epikur und die übrigen nicht ebensoviel fordern können? Daß ich nicht zu viel ansetze, kannst du leicht einsehen, wenn du denkst, wie viele acht- zigjährige Stoiker, Epikureer und Platoniker es gibt, die eingestehen, es fehle noch viel, daß sie den ganzen Umfang der Kenntnisse besäßen, die zu ihrem Lehrgebäude gehören. Wo nicht, mögen Chrysippus, Aristoteles oder Plato selber das zugeben oder vielmehr ihrer aller Ahnherr Sokrates, der seinen Nachfolgern nicht nachsteht und allen, die es hören wollten, laut genug zurief: er wisse nicht nur nicht alles, sondern er wisse ganz und gar nichts als das allein, daß er nichts wisse. Rechnen wir nun einmal zusammen: zwanzig Jahre für Pythagoras, ebensoviel für Plato und jeden der übrigen, wie sie der Reihe nach folgen. Wenn wir auch nur zehn Philosophenschulen annehmen, wie viele Jahre kommen im ganzen heraus? HERMOTIMUS: Über zweihundert, lieber Lycinus! LYCXNUS: Wenn es dir recht ist, wollen wir den vierten Teil abrechnen, so daß hundertfünfzig Jahre genug sind, allenfalls auch nur die Hälfte. HERMOTIMUS: Das wirst du selbst am besten wissen. Was ich nur zu gut sehe, ist, daß sogar im letzteren Falle wenige durch alle Schulen hindurchgehen können, selbst wenn sie gleich mit dem Tag ihrer Geburt anfangen. LYCINUS: Was wird nun aus uns werden, guter Hermotimus, wenn die Dinge so stehen ? Sollen wir wieder umstoßen, was wir bereits als unleugbar zugestanden haben: daß nie- mand aus vielen Dingen das beste wählen könne, wenn er sie nicht alle geprüft habe und wenn er ohne Prüfung wähle, suche er mehr durch die Wahrsagekunst als durch sein Urteil festzustellen, was richtig ist? War das nicht schon unter uns ausgemacht ? HERMOTIMUS: Ja. LYCINUS: Es bleibt uns also nichts übrig, als lange genug zu leben, wenn wir alle Philosophenschulen prüfen wollen, um die zu wählen, die uns durch ihre Lehre zu den glücklichsten Menschen machen soll. Ehe wir diese Wahl getroffen haben, tanzen wir, wie das Sprichwort sagt, im Finstern, stoßen überall an und halten das erste, was uns in die Hände kommt, für das, was wir suchen, weil wir nicht wissen, was das Rechte ist. Ja wären wir auch so glücklich, es durch einen guten Zufall zu finden, so fehlte uns doch immer die Gewißheit, daß es wirklich das sei, was wir suchten. Denn es gibt so viele einander ähnliche Dinge, von denen jedes das einzig wahre sein will. HERMOTIMUS: Ich weiß nicht, wie es zugeht, Lycinus, daß es mir vorkommt, als ob alles, was du sagst, ganz vernünftig sei. Und doch machst du mir, wenn ich die Wahrheit gestehen soll, mit diesen Erörterungen und subtilen Grübeleien keinen geringen Verdruß. Beinah muß ich glauben, ich sei heute unter keinem guten Zeichen aus dem Hause gegangen, daß ich gerade auf dich stieß, um mich, der dem Ziel meiner Hoffnungen schon so nahe war, von neuem in Zweifel und Verlegenheit zu stürzen und mir zu beweisen, daß es gar nicht möglich sei, die Wahrheit zu finden, da kein Mensch lange genug lebe, um das Ende des Weges zu finden, auf dem man sie suchen muß. LYCINUS: Lieber Freund, du mußt gerechterweise nicht auf mich ungehalten sein, sondern auf deinen Vater Menekrates und auf die Mutter, die dich geboren hat (wie sie auch geheißen haben mag), oder vielmehr auf die menschliche Natur, daß sie dir nicht das vieljährige, lange Leben des Tithonus gegeben, sondern es so eingerichtet hat, daß hundert Jahre die äußerste Linie sind, in die das Leben des Menschen eingeschlossen ist. Ich kann nichts dafür. Ich suchte mit dir und fand nichts, als was wir mit dem gemeinen Menschenverstand notwendig finden mußten. HERMOTIMUS: Das ist es nicht! Du bist aber ein ewiger Spötter und hast, ich weiß nicht warum, einen Haß auf die Philosophie und auf die Philosophen geworfen, auf die du mit stolzer Verachtung herabsiehst. LYCINUS: Lieber Hermotimus, was die Wahrheit ist oder nicht ist, müßt ihr Weisen, du und dein Meister, am besten wissen. Ich für meinen Teil weiß nur so viel, daß sie selten sehr angenehm zu hören ist und im Ansehen von der Lüge bei weitem übertroffen wird. Die Lüge fällt eben besser in die Augen und ist darum auch um so viel beliebter. Die Wahrheit hingegen, die sich keiner Unechtheit bewußt ist, redet freimütig mit den Leuten und ist ihnen darum verhaßt. So geht es nun auch mir! Du bist böse auf mich, daß ich dir zur Entdeckung der unwillkommenen Wahrheit verholfen habe, daß wir beide, du und ich, etwas lieben, dessen wir nicht so leicht teilhaftig zu werden hoffen dürfen. Es ist gerade so, als ob du in eine Bildsäule verliebt wärest und sie zu genießen hofftest, weil du sie für eine wirkliche Person angesehen hast, ich aber, weil ich weiß, daß sie von Stein oder Bronze ist, dir in guter Gesinnung berichtet habe, daß deine Leidenschaft nie befriedigt werden kann. Und nun setzest du dir in den Kopf, ich meinte es übel mit dir, weil ich dir nicht erlauben wolle, dich selbst mit abenteuerlichen und unmöglichen Hoffnungen zu täuschen. HERMOTIMUS: Das Ergebnis deiner schönen Entdeckungen ist also, daß wir gar nicht philosophieren, sondern uns auf die faule Haut legen und wie Alltagsmenschen dahinleben sollen? LYCINUS: Wann hast du mich das je sagen hören? Ich behaupte nicht, daß man nicht philosophieren solle, sondern ich sage nur: weil man philosophieren soll und es so viele Wege gibt, von denen jeder angeblich zur Philosophie und zur Tugend führt, der wahre aber unbekannt ist, sei es nötig, sich in der Wahl vorzusehen. Nun fanden wir, es sei unmöglich, aus vielem das Beste zu wählen, wenn man nicht alles aus eigener Erfahrung kennt. Und dann schien es, als ob dieser Weg der Erfahrung zu langwierig sei. Was ist denn nun deine Meinung, wenn ich fragen darf? Es soll wohl beim alten bleiben ? Du gehst mit dem ersten besten, den du triffst, und philosophierst mit ihm, und er bemächtigt sich deiner als eines unverhofften, glücklichen Fundes ? HERMOTXMUS: Und was soll ich dem Manne noch antworten, dem es eine ausgemachte Sache ist, daß niemand imstande sei, diese Prüfung selbst anzustellen, sofern er nicht so lange lebe wie der Vogel Phönix und alle Schulen ringsum der Reihe nach durchprobiert habe und, da dies unmöglich ist, dennoch weder denen, welche die Probe schon gemacht haben, glauben, noch das Zeugnis und den Beifall der Vielen gelten lassen will ? LYCINUS: Was verstehst du unter diesen Vielen? Gründet sich deren Zeugnis auf eine Kenntnis der Dinge, die sie sich auf dem Wege der Erfahrung erworben haben ? Wenn es einen solchen Mann gibt, ist mir dieser eine genug, und es bedarf keiner Menge mehr. Fehlt es ihnen aber an dieser Kenntnis, wie kann eine Menge ein Beweggrund für mich sein, ihr zu glauben, solange sie über alles urteilt, obwohl sie nichts oder nur eines weiß? HERMOTIMUS (verdrießlich): Du bist also der einzige, der die Dinge recht sieht, und alle, die philosophieren, sind Toren? LYCINUS: Du tust mir unrecht, guter Hermotimus, wenn du mich beschuldigst, ich stellte mich über die anderen und rechnete mich überhaupt zu denen, die etwas wissen. Wie hast du vergessen können, daß ich ausdrücklich zugegeben habe, daß ich mir nicht anmaße, der Wahrheit näher auf der Spur zu sein als andere und so wenig davon zu wissen wie alle? HERMOTIMUS: Laß uns vernünftig sprechen! Ich gebe dir gerne zu, daß du recht hast, wenn du behauptest, man müsse sich mit allen Schulen hinreichend bekannt machen, um die beste wählen zu können, und daß anders die Wahl nicht möglich ist. Aber solcher Prüfung so viele Jahre widmen, ist höchst lächerlich. Als ob es nicht möglich wäre, sich schon aus wenigen Teilen eine richtige Vorstellung vom Ganzen zu machen! Mir scheint, dies sei eine sehr leichte Sache, mit der man in kurzer Zeit fertig werden kann. Man erzählt von einem der alten Bildhauer (es war Phidias, wenn mir recht ist), er habe aus der bloßen Klaue eines Löwen erschlossen, wie groß das ganze Tier sein müsse, wenn es im Verhältnis zu ihr gebildet würde. Wenn man dir nur die Hand von einem im übrigen gänzlich verhüllten Menschen zeigte, würdest du, glaube ich, auf der Stelle wissen, daß der Eingehüllte ein Mensch ist, wenn du auch von dem übrigen Körper nicht das geringste sähest. Nun können die Hauptpunkte, auf die es bei dem System einer Schule ankommt, in wenigen Stunden begriffen werden. Die Feinheiten aber und alle Fragen, die einer langwierigen Entwicklung und Untersuchung bedürfen, sind zur Wahl des Besten nicht nur unnötig, sondern lassen sich schon aus den Grundbegriffen genügend beurteilen. LYCINUS: Ei, ei, Freund Hermotimus, wo denkst du hin, daß du dir einbildest, dir aus Teilen einen Begriff vom Ganzen machen zu können ? Ich erinnere mich noch sehr gut, in der Schule gerade das Gegenteil gehört zu haben. Mich lehrte man, wer das Ganze kenne, kenne auch jeden Teil, aber nicht umgekehrt, wer nur einen Teil kenne, der kenne auch das Ganze. Denn wie hätte Phidias die Klaue als eine Löwenklaue erkennen sollen, wenn er in seinem Leben keinen ganzen Löwen gesehen hätte? Oder wie könntest du wissen, daß die Hand einem Menschen zugehört, wenn du nicht schon zuvor einen Menschen kennengelernt hättest und wüßtest, wie er aussieht ? — Nun ? Warum so stumm ? Soll etwa ich für dich antworten, weil du es nicht kannst? Wie du siehst, muß dein Phidias unverrichteter Dinge abziehen, und du hast ihm mit dem Löwen, den er modellieren sollte, eine ganz vergebliche Mühe gemacht. Nichts von dem, was er sagte, gehört hierher. Wie sollte dieser Fall jenem ähnlich sein ? Weder Phidias noch Hermotimus kann ein anderes Mittel haben, zu erkennen, welchem Ganzen gewisse Teile zugehören, als daß euch das Ganze, der Löwe und der Mensch, bereits bekannt ist. Wie kannst du dir aber in der Philosophie, der stoischen zum Beispiel, aus einem oder mehreren Teilen eine richtige Vorstellung machen oder sie für schön erklären, da dir das Ganze unbekannt ist, wovon sie Teile sind? Ich gebe dir gerne zu, daß es eine Sache von wenigen Stunden ist, sich mit den Hauptstücken einer philosophischen Schule, ihren ersten Prinzipien und dem letzten Zweck, ihren Meinungen von den Göttern und von der Seele bekannt zu machen. Es ist leicht, zu wissen, daß die einen alles, was ist, für materiell halten, andere hingegen auch unkörperliche Wesen annehmen, daß jene das höchste Gut im Vergnügen, diese im Schönen und Guten suchen und dergleichen. Allerdings kostet es wenig Zeit und Mühe, solche Dinge zu hören und nachzusagen. Aber zu wissen, wer von ihnen allen das Wahre getroffen hat, das möchte wohl eine Arbeit nicht eines Teiles des. Tages, sondern von sehr vielen Tagen sein. Oder was müßte die Herren anfechten, daß sie über alle diese Dinge so viele hundert und tausend Bücher schreiben, doch wohl, um uns zu überzeugen, daß diese wenigen Sätze, die dir so leicht zu begreifen und erlernbar scheinen, wahr seien? Wenn du nun aber entschlossen bist, es dich nicht Mühe und Zeit kosten zu lassen, um eine sichere Wahl erst dann zu treffen, wenn du zuvor alle philosophischen Schulen und jede ganz kennengelernt hast, so sehe ich nur einen, der dir helfen kann: den Wahrsager. Das ist der kürzeste Weg, ohne alle Umschweife und Verzögerungen hinter die Wahrheit zu kommen. Du läßt einen Zeichendeuter rufen, und sobald du ein Hauptstück gehört hast, schlachtet er dir ein Opfertier, und ein Gott erspart dir unendliche Mühe und Sorgen, indem er dir in der Leber des Opfers zeigt, was du zu wählen hast. Oder wenn du willst, kann ich dir noch einen Vorschlag machen, bei dem es weniger Umstände braucht und du dir die Ausgaben für die Opfertiere und den Priester ersparen kannst, der seine Mühe doch auch gut bezahlt haben will. Schreibe die Namen aller Philosophen auf ebensoviele einzelne Zettel, wirf sie in einen Topf, schüttle sie tüchtig durcheinander, laß einen Knaben, der noch beide Eltern hat, hineingreifen, und das erste Los, das herauskommt, wird dir, wen es auch treffen mag, den Philosophen nennen, dessen Anhänger du fortan sein sollst. HERMOTIMUS: Du wirst spaßhaft, Lycinus, und dieser skurrile Ton schickt sich weder für dich noch für eine so ernsthafte Sache. Aber ich muß dir doch auch eine kleine Frage vorlegen. Hast du jemals selbst Wein gekauft? LYCINUS: Schon oft genug! HERMOTIMUS: Du gingst dann vermutlich bei allen Weinhändlern der Stadt herum und kostetest, prüftest und verglichst alle ihre Weine miteinander ? LYCINUS: Keineswegs. HERMOTIMUS: Du hieltest dich, denke ich, an den ersten besten, den du gut und nach deinem Geschmack fandest. LYCINUS: Freilich. HERMOTIMUS: Und aus dem wenigen, was du davon kostetest, konntest du dann beurteilen, welche Qualität der ganze Wein hat? LYCINUS: Das konnte ich allerdings. HERMOTIMUS: Wenn du nun bei den Weinhändlern herumgingest und sagtest zu ihnen: Ich möchte gern eine Schale Wein kaufen, ihr werdet also so gut sein und mir ein Faß zum Austrinken geben, damit ich ausprobieren kann, wer den besten hat und von wem ich ihn künftig nehmen soll meinst du nicht, sie würden dir ins Gesicht lachen ? Und wenn du dich nicht abweisen lassen wolltest, müßtest du dir dann nicht gefallen lassen, daß sie dir einen Kübel Wasser über den Kopf gössen ? LYCINUS: Da würde mir nur recht geschehen. HERMOTIMUS: Siehst du, lieber Lycinus, genau so ist's mit der Philosophie. Wozu brauche ich das ganze Faß auszutrinken, wenn ich aus einem kleinen Schluck schließen kann, wie das Ganze beschaffen ist? LYCINUS: Wie glatt und schlüpfrig du bist, Hermotimus! Du glitschest mir aus den Händen wie ein Aal! Aber du erleichterst mir nur die Mühe, dich zu fangen, und indem du der Reuse zu entrinnen glaubst, fällst du hinein. HERMOTIMUS: Wieso? LYCINUS: Du hättest deinen Vergleich nicht unglücklicher wählen können. Worin soll deiner Meinung nach denn die Ähnlichkeit zwischen einem so allgemein bekannten und unmittelbar für sich selbst zeugenden Ding, wie es der Wein ist, und einer so ungewissen Sache wie der Philosophie, über die alle Welt im Streit liegt, bestehen ? Ich wenigstens sehe keine andere, als daß die Philosophen ihre Weisheit für Geld hergeben wie die Wirte ihren Wein und daß nicht wenige von ihnen ihre Ware ebenso mischen und verfälschen und ebenso betrügliche Maße führen wie diese. Wir wollen dein Argument aber doch etwas genauer beleuchten, weil du dir soviel davon versprachst. Du sagst, der Wein sei im ganzen Fasse sich selbst gleich, und damit hast du allerdings sehr recht. So ist denn auch gegen die Folgerung, die du daraus ziehst, ein einziger kleiner Schluck, den man davon nimmt, genüge, um das ganze Faß zu probieren, kein Wort einzuwenden. Nun sieh einmal, wie das auf die Philosophie paßt. Sprechen die Philosophen, zum Beispiel deine Stoiker, alle Tage von denselben Dingen ? Oder, da der Materien, von denen sie zu handeln haben, sehr viele sind, immer von etwas anderem? Die Antwort ergibt sich von selbst. Denn es ist doch nicht anzunehmen, daß du ganze zwanzig Jahre wie Ulysses um deinen Meister herumgegangen und umhergeirrt sein solltest, wenn er immer dasselbe sagte und es also schon genug wäre, ihn einmal gehört zu haben ? HERMOTIMUS: Wie sollte es anders sein können? LYCINUS: Wie konntest du dir also vom bloßen Kosten seiner ersten Lektion einen richtigen Begriff von allen übrigen machen ? Da dir nicht immer dasselbe, sondern immer etwas Anderes und Neues gesagt wurde, war es damit also nicht wie mit dem Wein, der im ganzen Faß überall der gleiche ist. Du mußt entweder das ganze Faß austrinken, oder du bist um nichts gebessert, und was du davon getrunken hast, dient nur dazu, dir einen taumelnden Kopf zu machen. Denn ein Gott scheint das Beste der Philosophie ganz unten im Boden und in der Hefe selbst verborgen zu haben. Wenn du sie nicht also bis auf den letzten Tropfen ausschöpfest, wirst du nun und nimmermehr den Nektar finden, nach dem du mir schon so lange zu dürsten scheinst. Du hingegen meinst, wenn du sie nur gekostet und ein wenig davon zu dir genommen hast, werdest du flugs eine großer Allwisser werden, gerade so wie die Pythia in Delphi, wie man sagt, des Gottes voll wird und den Fragenden Orakel erteilt, wenn sie aus der heiligen Quelle getrunken hat. Aber so scheint sich die Sache nicht zu verhalten. Auch sagtest du ja selbst, du fingest erst an, obwohl du schon das halbe Faß ausgetrunken hast. Soll ich dir sagen, wie es mir mit der Philosophie vorkommt? Behalten wir das Faß und den Kaufmann bei. Aber statt des Weines sollen allerlei Arten von Getreide und Hülsenfrüchten in dem Fasse sein: oben eine Lage Weizen, danach Bohnen, dann Gerste, unter dieser Linsen, noch weiter unten Kichererbsen, und was weiß ich wie vielerlei andere Sorten. Nehmen wir an: du trätest herzu und wolltest etwas von den Sämerein kaufen, und der Verkäufer nähme von oben eine Hand voll Weizen weg und reichte sie dir als Probe hin: könntest du daraus wohl ersehen, ob die Kichererbsen rein, die Linsen leicht kochbar und die Bohnen nicht taub sind? HERMOTIMUS: Keineswegs! LYCINUS: Nun, eben diese Be andtnis hat es mit der Philosophie: du kannst nicht aus dem ersten besten, was einer sagt, schließen, wie sie im ganzen be hallen ist. Denn sie ist nicht eines wie der Wein, wie du es meintest, als du sie damit verglichst. Es ist bei ihr mit Kosten nicht getan. Es stellt sich vielmehr heraus, daß sie einer nicht nur beiläufigen Prüfung bedarf. Wenn ich schlechten Wein kaufe, habe ich mich ui zwei Obolen geschädigt, das Unglück ist nicht groß. Aber ob einer mit dem Kehricht der Menschheit, wie du dich anfangs ,ausdrücktest, zugrunde gehe, ist wahrhaftig keine Kleinigkeit. Übrigens hast du bei deinem Vergleich noch einen anderen sehr großen Unterschied übersehen. Wer einem Weinhändler zumuten wollte, ihn ein ganzes Faß austrinken zu lassen, um hernach ein Maß zu kaufen, würde durch diese ungereimte Art, Wein zu kosten, dem Kaufmanne Schaden zufügen. Bei der Philosophie ist es nicht so. Du magst trinken, soviel du willst, das Faß wird nicht leerer, und dem Wirt erwächst kein Schade. Hier geschieht gerade das Gegenteil vom Faß der Danaiden: dieses vermag nicht zu behalten, was hineingetan wird. Nimmt man aber von der Philosophie etwas weg, wird das Übriggebliebene nur um so reicher. Da wir aber just vom Kosten sprechen, will ich dir noch ein Gleichnis geben. Ich bitte dich nur, es nicht so aufzufassen, als ob ich dadurch die Philosophie lästern wolle. Ich glaube nicht sehr zu irren, wenn ich sage, es sei mit ihr wie mit Schierling oder Wolfsmilch oder einem anderen tödlichen Gift. Nimmt man nur etwas weniges davon auf die äußerste Spitze des Nagels und kostet es, so schadet es nichts. Soll man davon sterben, so kommt es darauf an, wieviel, wie und in welcher Verbindung man davon zu sich nimmt. Du bist also sehr im Irrtum, wenn du meinst, die kleinste Dosis sei schon hinreichend, die Erkenntnis des Ganzen zu vollenden. HERMO'TIMUS: Nun gut, Lycinus, das mag alles so sein, wie du willst. Muß man also hundert Jahre leben und sich alle diese Zeit so abscheulich plagen, oder gibt es noch einen anderen Weg, Philosophie zu treiben? LYCINUS: Keinen, den ich wüßte, lieber Hermotimus. Und das ist auch nichts so Außerordentliches, wenn anders wahr ist, was du anfangs sagtest, das Leben sei kurz und die Kunst lang. Ich begreife nun aber gar nicht, wie du auf einmal so böse darüber sein kannst, daß du nicht an einem Tage und noch vor Sonnenuntergang ein Chrysipp, Plato oder Pythagoras werden kannst. HERMOTIMUS: Du suchst mich bloß zu umschleichen und in die Enge zu treiben, Lycinus, wiewohl ich dir nichts zuleide getan habe, vermutlich aus bloßem Neid, daß ich in den Wissenschaften wenigstens einige Fortschritte gemacht habe, du hingegen dich versäumt hast, wiewohl du schon ein alter Kerl bist. LYCINUS: Weißt du, was ich täte, wenn ich du wäre? Ich ließe mich das Gerede eines so unsinnigen Menschen nicht anfechten, sondern ließe ihn schwatzen und setzte meinen Weg fort, wie ich ihn begonnen und wie ich es mir von Anfang an vorgenommen hätte. HERMOTIMUS: Aber du lässest mich ja mit aller Gewalt keine Wahl treffen, ehe ich alle ausprobiert habe. LYCINUS: Du kannst dich darauf verlassen, daß ich nie etwas anders sagen werde. Wenn du mich übrigens gewalttätig nennst, beschuldigst du mich, ohne daß ich es verdiene, um mit dem Dichter zu reden, auf die anmaßendste Weise, solange dir nicht eine andere Überlegung zu Hilfe kommt und dir deine Gewalttätigkeit nimmt. Diese Überlegung könnte dir das mit noch viel härteren Worten sagen, wiewohl am Ende doch wieder ich es werde sein müssen, der statt deiner die Schuld trägt. HERMOTIMUS: Wie das? Ich dächte, alles, was sich über die Sache sagen läßt, sei min erschöpft. LYCINUS: Es sei, sagt ditil Überlegung, zur Wahl des Besten nicht ausreichend, daß wir 'alles mit eigenen Augen sehen und untersuchen, es gehöre dazu noch etwas, was sogar das Wichtigste ist. HERMOTIMUS: Und das wäre ? LYCINUS: Weiter nichts, mein wunderlicher Freund, als ein gewisses Vermögen der Kritik und Untersuchungsgabe, an Scharfsinn, durchdringendem und unbestechlichem Verstand, wie ihn der haben muß, der über Dinge von solcher Wichtigkeit urteilt. Ohne das könnte uns alles Sehen nichts helfen. Auch das, sagt die Überlegung, die ich jetzt statt meiner sprechen lasse, erfordere keine geringe Zeit, und wenn auch alles, woraus wir zu wählen haben, vor uns liege, bedürfe es noch langen Ansichhaltens, Verweilens und öfteren Überlegens. Man muß ohne Rücksicht auf das Alter und das Äußere eines jeden der Redenden oder den Ruf der Weisheit, in dem er steht, nach dem Beispiel der Areopagiten verfahren, die bei Nacht und im Dunkeln Gericht halten, um nicht auf die Personen zu achten, die reden, sondern bloß auf das, was gesagt wird. So allein könne man sich mit Sicherheit für eine Art des Philosophierens erklären. HERMOTIMUS: Nach unserem Leben, meinst du! Denn wenn wir es so anfangen, reicht keines Menschen Leben aus, um auf alles einzugehen, einen jeden genau zu besehen und, wenn wir sie gesehen haben, alle zu vergleichen, wenn wir sie verglichen haben, die Wahl zu treffen und nach vollzogener Wahl endlich mit dem Philosophieren zu beginnen. Und doch ist das, deinen Worten nach, das einzige Mittel, den wahren Weg zu finden. Anders geht es nicht! LYCINUS: Es tut mir leid, daß ich sagen muß, lieber Hermotimus, daß wir auch damit noch nicht ausreichen. Denn ich fürchte sehr, wir haben uns umsonst Hoffnung gemacht. Wir glaubten, etwas gefunden zu haben, worauf wir fußen könnten, und haben nichts gefunden. Es ging uns wie den Fischern, die ihr Netz ausgeworfen haben und, wenn sie merken, daß es schwer geworden ist, oft zu ziehen anfangen, in der Hoffnung, eine Menge Fische gefangen zu haben. Und wenn sie es mit Mühe und Not herausgezogen haben, kommt nur ein Stein oder ein mit Sand gefüllter Topf zum Vorschein. Ich fürchte, auch wir haben etwas Derartiges herausgezogen. HERMOTIMUS: Ich begreife nicht recht, was du mit diesen Netzen willst. Ich sehe nur, daß du mich damit umgarnst. LYCINUS: So versuche dich herauszuwinden. Denn schwimmen kannst du, mit Gottes Hilfe, so gut als einer. Wenn wir also auch bei allen herumgekommen wären, sie ausprobiert und insoweit unsere Arbeit getan hätten, so würde doch wohl noch immer unausgemacht bleiben, ob einer von ihnen das hat, was wir suchen. Denn es ist ebensogut möglich, daß sie alle nichts davon wissen. HERMOTIMUS: Was sagst du? Kein einziger von ihnen hätte es ? LYCINUS: Das ist es, was wir nicht wissen. Oder du müßtest es für unmöglich halten, daß sie dich alle täuschen und das Wahre etwas ganz anderes ist, das keiner von ihnen noch ausfindig gemacht hat. HERMOTIMUS: Wie sollte das zugehen ? LYCINUS: Das kann ich dir leicht begreiflich machen. Wir wollen annehmen, das Wahre, das wir suchen, sei die Zahl Zwanzig: es habe zum Beispiel jemand zwanzig Bohnen in seiner geschlossenen Hand und frage zehn Personen, wieviel Bohnen er in der Hand habe. Nun rät der eine sieben, ein anderer fünf, ein dritter dreißig, wieder ein anderer zehn oder fünfzehn, kurz, jeder eine andere Zahl. Es ist sehr möglich, daß einer zufälligerweise die wahre Zahl trifft, nicht wahr? HERMOTIMUS: O ja! LYCINUS: Es ist aber auch ebenso möglich, daß sie alle auf andere Zahlen raten, die falsch und unrichtig sind, und daß unter allen zehn keiner sagt, der Mann habe zwanzig Bohnen. Oder was meinst du? HERMOTIMUS: Es ist nicht unmöglich! LYCINUS: Ebenso raten nun alle Philosophen, was Glückseligkeit ist. Jeder sagt, sie sei etwas anderes: der eine, sie bestehe in der Wollust, ein anderer im Schönen, der dritte in Gott weiß was. Es ist ganz wahrscheinlich, daß eines von diesen allen wirklich das höchste Gut ist. Es ist aber nicht schlechterdings unmöglich, daß es noch etwas anderes ist, als alles, was sie dafür ausgeben. Es scheint mir also, wir machen es verkehrt, wir eilen dem Ende zu, bevor wir den Anfang gefunden haben. Denn vor allem, scheint mir, müßte ausgemacht sein, man wisse das Wahre, und es finde sich wirklich bei einem unter den Philosophen. Dann erst kommt die zweite Frage, wem man glauben soll. HERMOTIMUS: Du willst damit also sagen, wenn wir auch alle Philosophenschulen durchgingen, würden wir doch nicht dahin kommen, das Wahre zu finden ? LYCINUS: Frage nicht mich, mein Bester, sondern lieber die Überlegung selbst. Sie könnte dir antworten, daß es nicht der Fall ist, solange es ungewiß bleibt, ob sich das Wahre unter dem befindet, was diese Herren sagen. HERMOTIMUS (trostlos und unwillig): So werden wir es also nie finden und nie philosophieren können, sondern dazu verdammt bleiben, als einfältige Menschen zu leben und von der Philosophie auf ewig Abschied zu nehmen! Das folgt ganz klar aus deinen Worten. Es ist gar nicht möglich, meinst du, zu philosophieren, und wer von einem Weibe geboren ist, kann schlechterdings nicht dazu gelangen. Denn zuerst muß deiner Meinung nach einer, der sich der Philosophie widmen will, die beste auswählen, und diese Wahl läßest du nicht eher gelten, als bis wir alle Schulen durchgegangen sind und auf diese Weise aus allen die wahrste herausgesucht haben. Wenn du dann die Zahl der Jahre berechnest, die für jede Schule erforderlich sind, setzest du sie so übermäßig hoch an, daß du ganze Menschenalter forderst und die Wahrheit eine Sache wäre, die, wer weiß wieweit, jenseits der Grenzen des menschlichen Lebens läge. Endlich kommst du noch und behauptest sogar, nicht einmal das sei außer allem Zweifel und sicher, ob die Philosophen je das Wahre gefunden hätten oder nicht. LYCINUS: Nun, Hermotimus, getraust du dir etwa einen Eid darauf abzulegen, daß sie es gefunden haben ? HERMOTIMUS: Schwören möchte ich ihn freilich nicht. LYCINUS: Und ich bin noch so gutmütig gewesen und habe dir manches aus freien Stücken nachgesehen, was eigentlich einer großen Untersuchung bedürfte. HERMOTIMUS: Wieso? LYCINUS: Hast du nie gehört, es gebe Leute, die sich für Stoiker, Epikureer oder Platoniker ausgeben und gleichwohl das System, dem sie zugetan sein wollen, nicht gründlich kennen, obwohl sie im übrigen die ehrenwertesten Leute von der Welt sind? HERMOTIMUS: Das ist freilich nicht zu leugnen. LYCINUS: Meinst du nun, es sei eine leichte Sache, die, welche wirklich wissen, was sie zu wissen vorgeben, von denen zu unterscheiden, die nichts wissen und doch so reden, als ob sie alles wüßten ? Scheint dir das nicht sehr schwer ? HERMOTIMUS: 0 gewiß! LYCINUS: Wenn du also wissen willst, wer der beste Stoiker ist, mußt du dich, wo nicht mit allen, doch wenigstens mit den meisten bekannt machen und sie auf die Probe stellen, ehe du dir den Besten zum Lehrmeister wählen kannst. Um dazu aber imstande zu sein, ist zuvor doch viele Übung und ein großes Maß von Urteilskraft in solchen Dingen erforderlich, damit du nicht aus Unkenntnis den Schlechteren für den Besseren ansiehst Nun überlege einmal, wieviel Zeit auch dazu gehört! Ich brachte sie vorhin absichtlich nicht in Anschlag, um dich nicht gar zu unwillig zu machen. Und doch ist in solchen Dingen (ich rede von den ungewissen und problematischen) das Wichtigste und Unentbehrlichste die Zeit, als das Einzige, worauf dein Vertrauen und deine ganze Hoffnung sich stützen kann, die Wahrheit zu finden. Es gibt mit einem Wort gar kein anderes sicheres Mittel, zu deinem Ziel zu gelangen, als daß du alles richtig beurteilen und Wahres vom Falschen zu scheiden vermagst, gleich den Münzprüfern, die feststellen, was von echtem Schrot und Korn und was unecht und nachgemacht ist. Hast du dir diese Fähigkeit und Kunst im voraus erworben, so kannst du dich mit Vertrauen an die Prüfung dessen machen, was dir vorgesagt wird. Wo nicht, so verlaß dich darauf, mein Freund, daß du dich von jedem an der Nase herumführen lassen mußt und, wie andere Schafe auch, jeden Weg gehen wirst, den man dir mit der Gerte zeigt. Ja du wirst so leicht zu führen sein wie Wasser, das man auf einen Tisch gießt und das der leichtesten Berührung mit der Fingerspitze nach jeder Richtung hin folgt, und kein Schilfrohr am Ufer eines Flusses wird sich leichter als du von jedem Hauch, jedem schwachen Lüftchen hin und her wiegen lassen. Solltest du aber so glücklich sein, einen Meister zu finden, der die Kunst, das Gewisse und Ungewisse genau zu unterscheiden und die Gewißheit des Wahren außer allen Zweifel zu setzen verstünde und sie dir mitteilte, dann wäre dir mit einem Male geholfen. Du brauchtest über die Wahl des Besten nicht länger verlegen zu sein, Wahres und Falsches läge dir durch die Kunst des Beweisens klar vor Augen, du brauchtest nur fest zuzulangen und könntest nach Herzenslust philosophieren, dich in den Besitz der so lang ersehnten Glückseligkeit setzen und mit ihr den Rest deines Lebens im Genuß alles möglichen Guten zubringen. HERMOTIMUS: Das ist doch einmal ein Wort, das sich hören läßt! Es bleibt doch wenigstens noch eine nicht geringe Hoffnung übrig, und wir haben nichts zu tun, als unverzüglich den Mann zu suchen, der uns die Gabe mitteilen kann, das Wahre zu erkennen und zu unterscheiden und zur Gewißheit zu erheben. Alles übrige wird sich dann von selbst finden und weder viel Mühe noch großen Zeitaufwand kosten. Ich danke dir sehr, daß du mir diesen kurzen Weg, der unstreitig der beste ist, ausfindig gemacht hast. LYCINUS: Dein Dank kommt noch zu früh, Hermotimus, denn ich habe noch nichts gefunden und dir noch nichts gesagt, was dich deiner Hoffnung näher brächte. Im Gegenteil, wir sind viel weiter von ihr entfernt als jemals und haben, wie man zu sagen pflegt, zwar viel gearbeitet, aber nichts getan. HERMOTIMUS: Wie meinst du das? Das ist ja eine trostlose Nachricht, und du scheinst mir etwas ganz Hoffnungsloses sagen zu wollen. LYCINUS: Es geht ganz natürlich zu, lieber Freund. Gesetzt, wir haben den Mann gefunden, der vorgibt, er verstehe sich auf die philosophische Beweisführung und könne sie auch mit Gewißheit lehren, so werden wir es ihm doch nicht auf sein bloßes Wort glauben wollen ? Wir werden einen anderen suchen müssen, der darüber urteilen kann, ob jener die Wahrheit gesagt hat. Und sind wir so glücklich gewesen, auch diesen zu finden, so wissen wir noch immer nicht, ob dieser zweite auch der Mann ist, der als Schiedsrichter über jenen ein entscheidendes Urteil fällen kann oder nicht. Wir haben also einen dritten nötig, der den zweiten auf die Probe stellt. Denn wir selbst sollten uns doch nicht anmaßen, zu beurteilen, wer das Wahre am besten vom Falschen zu unterscheiden wisse. Du siehst, wohin das führt, und wie wenig wir an ein Ende kommen. Denn bei wem wollen wir stehenbleiben, und an wen wollen wir uns halten ? Werden doch die Beweise selbst, so viele ihrer auch erfunden worden sind, wie wir sehen, angefochten und geben keine allen Zweifel behebende Gewißheit. Denn die meisten suchen unsere Zustimmung zu erzwingen, indem sie sich auf andere Sätze stützen, welche sie als gewiß voraussetzen, wiewohl sie nichts weniger als ausgemacht sind. Ja viele verbinden sogar das Dunkelste mit dem Augenscheinlichsten, obgleich nicht der geringste Zusammenhang zwischen beiden vorhanden ist, und gehen sie gleichwohl als Beweisführung aus. So glaubte einer, die Existenz der Götter aus dem Dasein ihrer Altäre zu beweisen. Und so, mein guter Hermotimus, drehen wir uns, weiß der Himmel wie, ewig im Kreise herum und finden uns, statt an ein Ende zu kommen, immer wieder am Anfang und bei unserer ersten Verlegenheit ein. HERMOTIMUS: Wie du mir mitgespielt hast, Lycinus! So ist also der Schatz, den du mich sehen ließest, zu Kohle geworden. Und so viele Jahre meines Lebens und die viele Mühe, die ich es mich habe kosten lassen, sind also reiner Verlust! LYCINUS: Ich weiß dir keinen besseren Rat, lieber Hermotimus, als dich mit dem Gedanken zu trösten, daß du nicht der einzige bist, den seine Hoffnungen getäuscht haben, und daß ja alle Philosophen, so viele ihrer auch sind, sich im Grunde, um mit dem Sprichwort zu reden, um des Esels Schatten zanken. Denn du gestehst nun selbst ein, daß es unmöglich ist, alle die Bedingungen zu erfüllen, von denen wir gesprochen haben. Bei dieser Lage der Dinge kommt mir deine Betrübtheit ebenso vor, als wenn jemand bitterlich darüber weinte und sein Schicksal darum anklagte, daß er nicht in den Himmel steigen oder nicht in die Tiefe des Meeres tauchen und auf seinem Grunde von Sizilien nach Cypern gehen oder von Griechenland noch an diesem Tage nach Indien fliegen kann. Schuld an solcher Trauer ist eine falsche Hoffnung oder ein Traum oder etwas, was man sich eingebildet hat, ohne zu bedenken, ob das, was man sich wünscht, auch zu erlangen und nicht vielmehr mit der menschlichen Natur unvereinbar ist. Ich muß gestehen, lieber Freund, du ließest dir gar viele schöne und wundervolle Dinge träumen, bis die leidige Vernunft dich durch einen unvermuteten Stoß aus dem Schlaf auffahren ließ. Und nun, da du noch kaum die Augen auftun kannst und aus Freude über die schönen Erscheinungen noch halb schlaftrunken bist, ist es kein Wunder, daß du ungehalten über sie bist. Es geht dir wie den wackeren Leutchen, die sich in einem Wachtraum irgendein Luftschloß gebaut haben. Wenn ihnen dann, während sie in ihrer Einbildung steinreiche Leute sind, einen unterirdischen Schatz gefunden haben, die Welt regieren oder in Wohlleben und Vergnügungen schwimmen — die allmächtige und so freigebige Göttin der Wünsche widerspricht uns ja nie, auch wenn einer Flügel haben, so groß sein wie der Koloß von Rhodos oder ganze Berge von gediegenem Golde finden wollte —, wenn, sage ich, während sie solchen Gedanken nachhängen, ihr Sklave kommt und sie nach notwendigen Dingen fragt, etwa, wo er Brot kaufen oder was er dem Hausherrn, der den Mietzins fordert und schon lange darauf wartet, antworten soll, dann erbosen sie sich über den armen lästigen Frager, nicht anders, als ob er ihnen alle ihre erträumten Reichtümer und Glückseligkeiten wirklich gestohlen hätte, und es fehlt wenig, so bissen sie ihrem Sklaven die Nase ab. Aber es sei ferne von dir, mein alter Freund, über mich ungehalten zu werden, daß ich, wenn du dich über Schatzgräberei oder Fliegen oder andere solche ausschweifenden Einbildungen und unerfüllbaren Hoffnungen unterhieltest, als dein Freund nicht zugeben konnte, daß du dein ganzes Leben in diesem freilich angenehmem Traum, aber doch immer in einem Traum zubringen solltest, sondern daß ich dich aufgeweckt habe. Ich rate dir, dich um nötigere Dinge zu bekümmern, für die du in deinem übrigen Leben mit dem gesunden Menschenverstand auskommen kannst. Denn die Dinge, mit denen du dich bisher abgegeben hast, sind nicht um ein Haar besser als die Hippocentauren, Chimären, Gorgonen und andere solche Traumfiguren, dergleichen die Poeten und Maler nach Belieben erdichten und die nie existiert haben noch existieren können, wiewohl der große Haufe an sie glaubt und sie gerne sehen oder sich von ihnen erzählen läßt, eben darum, weil sie abenteuerlich und unglaublich sind. Da kommt dir zum Beispiel irgend so ein Märchenmacher in den Weg und erzählt dir ein langes und breites von einer übernatürlich schönen Frau, neben der selbst die Grazien und Urania sich nicht sehen lassen dürfen. Und ohne dich vorher zu erkundigen, ob er auch die Wahrheit sagt und ob es irgendwo auf Erden eine solche Frau gibt, verlebst du dich auf der Stelle in sie, wie sich Medea auf einen bloßen Traum hin in Jason verliebt haben soll. Was freilich dich und alle andern verführte, dich in ein Phantom zu verlieben, war vermutlich das, daß der Mann, der euch von dieser schönen Frau sprach, als man von ihm glaubte, daß er die Wahrheit sage, lauter wohl zusammenhängende Dinge von ihr erzählte. Ihr sähet bloß darauf, und da ihr ihm einmal diese Handhabe gegeben hattet, zog er euch an der Nase fort und zu eurer Geliebten, auf dem Weg, der seinen Worten nach der nächste War. Denn nun hatte er gewonnenes Spiel, und keiner von euch ließ sich auch nur einfallen, an den Ausgangspunkt zurückzukehren und genauer nachzuforschen, welches der rechte Weg sei und ob er nicht etwa auf den falschen geraten sein könnte. Jeder folgte, wie Schafe ihrem Hirten, den l'ußstapfen der Vorgänger, anstatt gleich am Eingang zu Untersuchen, ob es ratsam sei, den Weg zu beschreiten. Um dir meine Meinung deutlicher zu machen, will ich dir ein Gleichnis sagen. Angenommen, einer von diesen so vieles Wagenden Dichtern sage dir, es sei einmal ein Mann gewesen, der drei Köpfe und sechs Arme gehabt habe. Wenn du das nun gleich annimmst, ohne dir Gedanken zu machen, und glaubst, ohne zu bedenken, ob es auch möglich sei, dann wird jener sogleich das übrige, das ganz natürlich folgt, hinzutun und sagen : der besagte Mann habe sechs Augen und ebensoviel Ohren gehabt, habe mit einem dreifachen Mund auf einmal gesprochen und gegessen, habe dreißig Finger gehabt und nicht bloß zehn wie wir an beiden Händen. Und wenn er in den Krieg gezogen sei, habe er mit drei Händen seine Schilde von verschiedenen Formen gehalten und in einer von den drei anderen eine Streitaxt geführt, mit der anderen eine Lanze geschwungen und in der dritten das Schwert gehalten. Und wer könnte ihm wohl in allem dem seinen Glauben versagen, da es nichts als Folgen dessen sind, was zuerst dahin hätte untersucht werden müssen, ob man es zugeben und als möglich hinnehmen könne? Denn sobald man ihm einmal einen Mann mit drei Köpfen und sechs Armen zugestanden hat, folgt alles übrige von selbst und läßt sich nicht mehr zum Stehen bringen. Man kann ihm seinen Glauben schwerlich mehr versagen, da es die Folge des Eingestandenen und von gleicher Art mit ihm ist. Das ist genau der Fall bei euch. Da ihr, aus lauter Lust und Liebe zur Sache, beim Eingang nicht untersucht, wie es damit beschaffen ist, zieht euch die Konsequenz immer weiter mit sich, und ihr gebt nicht acht, ob das, was auf eure Prämissen richtig folgt, nicht doch falsch ist. So könnte zum Beispiel der, dem du einmal zugegeben hättest, daß zweimal fünf sieben sei, weil du nicht bei dir selbst nachgerechnet hast, fortfahren : folglich sei viermal fünf vierzehn und so weiter. Das ist, nebenbei gesagt, die Art, wie die so bewunderte Geometrie verfährt. Denn auch sie stellt an die Anfänge wunderliche Zumutungen und verlangt Zugeständnisse, die man ihr nicht machen sollte: von der Unteilbarkeit gewisser Punkte, von Linien ohne Breite und dergleichen Undinge. Indem sie so auf ein wurmstichiges Fundament baut, macht sie sich auch noch mit Demonstration und Beweis breit, obwohl gleich die ersten Begriffe, von denen sie ausgeht, erfunden sind. Ebenso macht ihr es, wenn ihr die ersten Grundbegriffe einer jeden Schule ohne Beweis zugebt. Ihr glaubt dann an all die Folgerungen und macht ihre Konsequenz zum Kennzeichen ihrer Richtigkeit, wiewohl diese Konsequenz eine bloße Täuschung ist. Nicht wenige unter euch gehen mit ihren Hoffnungen aus der Welt, ehe sie zur Erkenntnis des Wahren gekommen sind und eingesehen haben, daß sie von ihren Lehrern betrogen worden sind. Und die, die mit schon grauen Haaren endlich zu dieser Einsicht gelangen, können sich nicht entschließen, noch umzukehren, weil sie sich schämen, in solchem Alter noch eingestehen zu müssen, daß sie unverständig genug gewesen sind, Kinderspiele wichtig zu nehmen. So bleiben sie dann aus falscher Scham, wo sie sind, preisen ihre Sachen an und suchen so viele als möglich auf denselben Weg zu verleiten, damit sie nicht die einzigen Betrogenen sind, sondern sich wenigstens damit trösten können, daß es vielen anderen nicht besser gegangen sei als ihnen. Auch sehen sie wohl ein, daß es, wenn sie die Wahrheit sagen wollten, um ihr Ansehen bei dem großen Haufen und um die Ehre geschehen wäre, die ihnen ihrer vermeinten Vorzüge wegen erwiesen wird. Es ist also nie zu erwarten, daß sie, wiewohl sie sehr gut wissen, daß alle ihre Hoffnungen in Rauch aufgegangen sind, freiwillig die Wahrheit sagen und sich dadurch mit allen andern in die gleiche Linie stellen. Solltest du also (was immer ein sehr seltener Fall sein wird) auf einen stoßen, der den Mut hätte, zu gestehen, daß er irre gegangen sei und sich's angelegen sein ließe, andere vor gleichem Irrtum zu warnen, so kannst du ihn einen echten Freund der Wahrheit, einen biederen und braven Mann und, wenn du willst, einen Philosophen nennen; ich wenigstens werde nichts dagegen einwenden. Denn wenn dieser Name jemandem gebührt, so allein diesem. Die anderen wissen entweder nichts, so sehr sie sich einbilden, etwas zu wissen. Oder sie verbergen, was sie wissen, aus Scham und Eitelkeit. Doch, wie dem auch sei! Lassen wir, um Minervas willen, alles auf sich beruhen, was ich bisher gesagt habe. Bilde dir ein, es sei davon nicht die Rede gewesen, und nehmen wir als ausgemacht an, die stoische Philosophie, der du dich bisher gewidmet hast, sei die einzige richtige. Und nun laß uns sehen, ob sie so beschaffen ist, daß ein Mann zu ihrem Besitz gelangen kann, oder ob nicht alle, die nach ihr streben, sich vergebliche Mühe gegeben haben. Die Versprechungen klingen zwar herrlich, und man sagt uns Wunderdinge davon, wie selig die sind, die ihren Gipfel erreicht haben und nun in dauerndem und vollem Genuß alles wahrhaft Guten leben. Aber du mußt selbst wissen, ob du je einen solchen vollendeten Stoiker gesehen hast, der nie vom Schmerz überwältigt, nie von der Wollust angezogen wird, der nie in Zorn gerät, über allen Neid erhaben ist, den Reichtum verachtet, mit einem Wort, der den seligen Göttern so ähnlich ist, wie es der sein soll und muß, der als Kanon und Muster eines ganz nach den Vorschriften der Tugend geführten Lebens gelten soll. Denn wenn auch nur das geringste daran fehlt, ist einer unvollkommen, wenn er auch alles übrige hätte, und wie wenig ihm auch fehlt, fehlt ihm doch alles. Sahest du nun je einen vollkommenen Stoiker? HERMOTIMUS: Ich kann nicht sagen, daß ich je einen gesehen habe. LYCINUS: Das heißt als ehrlicher, wahrheitsliebender Mann sprechen ! Wenn dem nun so ist, wenn du siehst, daß weder dein Meister noch deines Meisters Meister, noch dessen Vorgänger, noch, wenn du auch bis in die zehnte Generation hinaufsteigst, irgendeiner von denen, die vor ihnen waren, zur Weisheit im eigentlichen Sinne und durch sie zur Glückseligkeit gelangt ist, was für eine Absicht kannst du noch bei deinem Philosophieren haben? Du wirst vielleicht sagen, du seist schon zufrieden, wenn du der Glückseligkeit auch nur nahekommst; aber damit hättest du soviel als nichts gesagt. Denn wer außen steht, der steht, wie nahe er auch der Tür ist, so gut außerhalb der Tür und unter freiem Himmel, als wer weit von ihr entfernt ist. Wenn es einen Unterschied gibt, so besteht er wohl bloß darin, daß dem, der die Größe des Gutes, dessen er ermangelt, in der Nähe sieht, nur desto schlimmer zumute sein muß. Und wenn ich dir nun auch zugebe, daß du der Glückseligkeit wenigstens näher bist als wir andern, ist das wohl die aufreibende Mühe wert, die du dir darum gibst? Welch großen Teil deines Lebens hast du nicht schon in immerwährender Anstrengung, in Vernachlässigung deiner Gesundheit und schlaflosen Nächten zugebracht! Und du hast es doch nicht weiter bringen können, als daß du dich wenigstens noch zwanzig Jahre quälen mußt, um als Greis von achtzig (wenn anders du so lange lebst, wofür dir niemand bürgen kann) immer nur einer von denen zu sein, die noch nicht zur Glückseligkeit gelangt sind! Denn du wirst dir doch nicht schmeicheln wollen, der einzige zu sein, der durch Unermüdlichkeit endlich ein Gut erreichen und fassen werde, das schon so viele wackere Männer vor dir, die schneller laufen konnten als du, nicht zu erhaschen vermochten? Doch ich will die Gefälligkeit so weit treiben und, wenn es dir Freude macht, annehmen, du habest es endlich erlangt und ganz und gar in deinen Besitz gebracht: dann sehe ich aber fürs erste noch immer nicht, was für ein Gut dich für so unsägliche Mühe entschädigen könnte. Und wie lange wirst du als alter Mann, der schon weit über die Zeit des Genießens hinaus ist und einen Fuß schon in Charons Nachen gesetzt hat, seiner noch froh werden können? Es müßte denn sein, du Trefflicher, daß du dich bloß auf ein anderes Leben vorbereiten willst, in der Meinung, es dann dort desto besser zu haben, wenn du hier gelernt hast, wie man leben soll. Das aber wäre ungefähr das gleiche, als wenn jemand unter lauter Vorbereitungen und Zurüstungen für eine köstliche Mahlzeit darüber unversehens Hungers stürbe. Zu dem allem kommt noch etwas in Betracht, woran du noch nie gedacht zu haben scheinst: daß die Tugend im Wirken besteht, darin, gerechte, weise und tapfere Handlungen wirklich zu tun. Ihr aber (wenn ich ihr sage, so meine ich eure berühmten Philosophen) laßt das eure geringste Sorge sein und bringt dafür eure meiste Zeit mit Streiten über unverständliche Wörter, Syllogismen und spitzfindige Fragen hin, und wer darin dem anderen überlegen ist, der scheint euch der große Mann zu sein. Das ist es denn auch, was ihr, soviel ich sehen kann, an eurem alten Professor bewundert. Oder was fändet ihr am Ende mehr an ihm, als daß er eine große Fertigkeit besitzt, Leute, die sich mit ihm einlassen, durch unerwartete Fragen in Verlegenheit zu setzen, und daß er besser als andere weiß, wie man es machen muß, um jemandem durch Sophismen und Subtilitäten dahin zu bringen, daß er sich nicht mehr zu helfen weiß? Und so macht ihr euch, unbekümmert um die Frucht des Baumes, die in Taten besteht, desto mehr mit seiner Rinde zu schaffen und belustigt euch bei euren Zusammenkünften damit, einander die Blätter hinzuwerfen. Oder kannst du sagen, Hermotimus, daß ihr von morgens bis abends etwas anderes tut? HERMOTIMUS: Ich kann nichts anderes sagen. LYCINUS: Geschähe euch also Unrecht, wenn man euch vorwürfe, daß ihr den Körper fahren laßt, um nach seinem Schatten zu haschen, oder daß ihr nach der abgestreiften Haut der Schlange greift und sie selbst darüber entschlüpfen laßt? Seid ihr nicht wie einer, der Wasser in einen Mörser gießt und, es mit eiserner Keule stampfend, sich einbildet, eine nötige und nützliche Arbeit zu verrichten, ohne zu wissen, daß Wasser Wasser bleibt, auch wenn er sich die Arme aus den Achseln stößt? Und nun erlaube mir noch diese einzige Frage: wolltest du wohl, die Wissenschaft ausgenommen, in irgendeiner anderen Beziehung deinem Meister ähnlich und so jähzornig, so kleinlich, so streitsüchtig, so wollüstig sein, wie er es ist, wenn auch die meisten ihn nicht dafür ansehen? — Warum antwortest du mir nicht, Hermotimus? Gut! So will ich dir erzählen, wenn du es hören magst, wie sich unlängst ein Mann, der im Dienste der Philosophie grau geworden ist und dessen Lektionen wegen seiner Weisheit von jungen Leuten so stark besucht werden, über sie ausgesprochen hat. Die Veranlassung dazu war, daß er einen seiner Schüler ziemlich ungestüm zur Bezahlung des Lehrgeldes aufforderte, da es überfällig sei und, der Vereinbarung gemäß, schon vor sechzehn Tagen, nämlich am letzten Tag des vergangenen Monats, hätte entrichtet werden sollen. Zufälligerweise war gerade der Oheim des jungen Menschen bei dieser Szene anwesend. Als er den Philosophen in so großen Eifer geraten sah, konnte er, ein biederer Landmann, der von euren Dingen keine Ahnung hat, nicht länger schweigen. «Ich sollte denken, mein hochgelehrter Herr», sagte er zu dem Philosophen, «du brauchtest kein solches Aufheben zu machen, als ob dir wer weiß wie großes Unrecht geschehen sei, wenn wir dich für die Worte, die wir dir abkauften, noch nicht bezahlt haben. Was du uns verkauft hast, ist noch immer dein, und du hast von all deiner Gelehrsamkeit durch diesen Handel nichts verloren. Im übrigen muß ich dir sagen, daß der Junge in allen Dingen, um deren willen ich ihn in deine Hände gab, nicht um ein Haar besser geworden ist. Noch vor kurzem hat er die Tochter unseres Nachbarn Echekrates, ein unschuldiges Mädchen, geraubt und verführt, und hätte ich den Vater, der arm ist, wegen des Vergehens nicht mit einem baren Talent beruhigt, so würde er schwerlich einer Notzuchtsklage entgangen sein. Erst neulich gab er seiner Mutter Ohrfeigen, als sie ihn aufder Tat ertappte, wie er einen großen Krug Wein unter seinem Mantel wegtragen wollte, vermutlich zu einem Trinkgelage mit seinen Kameraden. Was sein auffahrendes, trotziges Wesen, seine Unverschämtheit, Verwegenheit und seinen Hang zum Lügen betrifft, so hat er, wie ich gestehen muß, seit Jahr und Tag darin mächtig zugenommen. Und das war es doch eigentlich, worin du ihn, wie ich meinte, auf bessere Wege bringen solltest, und nicht, ihm das alberne Zeug in den Kopf setzen, mit dem er uns täglich beim Essen lästig fällt: wie ein Krokodil einen Knaben geraubt habe, mit dem Versprechen, ihn zurückzugeben, wenn der Vater was weiß ich antworte, und daß es bei Tag unmöglich Nacht sein könne. Ein andermal brachte der saubere junge Herr allerhand wirres Kauderwelsch vor, von dem uns, wie er sagte, Hörner wachsen sollten. Wir lachen freilich nur darüber, zumal wenn er sich die Ohren zuhält, mit sich selbst spricht und von Hexen und Schesen, Katalepsen 97 und Phantasien und einer ganzen Menge solcher wunderlichen Dinge faselt. Das geht so weit, daß er uns sogar ins Gesicht behauptete, es gebe keinen Gott im Himmel, sondern die Gottheit durchdringe alles, Holz, Stein und Tiere, die verächtlichsten Dinge nicht ausgenommen. Und als seine Mutter ihn fragte, wie er so albernes Zeug reden könne, lachte er ihr ins Gesicht und sagte: ,Laßt mich «das alberne Zeug» nur erst recht im Kopfe haben, dann will ich denn sehen, der mir verwehren will, allein reich und allein König zu sein und auf alle anderen Leute wie auf Sklaven und Lumpenpack herabzusehen.'» Alles dies, lieber Hermotimus, sagte der Oheim, und nun hör einmal die schöne Antwort, die ihm der Graubart gab. «Wenn der junge Mensch nun bei mir nicht gehört hätte, meinst du nicht, er würde dann noch viel ärgere Dinge getan haben und vermutlich gar in die Hände des Henkers geraten sein ? So aber hat ihm die Philosophie und die Scham vor ihr ein Gebiß zwischen die Zähne gelegt, und er ist weit beherrschter und erträglicher, als er sonst es wäre. Denn er müßte sich ja schämen, wenn er der Haltung und des Namens der Philosophie unwürdig schiene, die ihn jetzt stets begleitet und an seine Pflicht erinnert. Ich kann also mit Recht verlangen, wo nicht für das, worin ich ihn besser gemacht habe, so doch für das Böse, das er aus Scheu vor der Philosophie nicht begangen hat, von euch bezahlt zu werden. Berufen sich sogar die Kinderwärterinnen darauf, daß die kleinen Kinder in die Schule gehen sollen: wenn sie gleich nichts lernen, sagen sie, so tun sie doch nichts Böses, solange sie in der Schule sind. Im übrigen glaube ich, alles andere geleistet zu haben, und zum Beweise stelle ich dir frei, morgen mit irgendeinem Manne, der etwas von unserer Lehre versteht und den du selbst wählen kannst, wiederzukommen : du sollst sehen, wie dein Neffe fragt und antwortet, wieviel er gelernt hat, wie viele Bücher er schon gelesen und wie gut er die Kapitel von-Axiomen, von Syllogismen, von der Katalepsis, von den Pflichten und viele andere begriffen hat. Hat er seine Mutter geschlagen oder Jungfrauen entführt, was geht das mich an? Du hast mich ja nicht zu seinem Schulmeister bestellt!» So, mein lieber Hermotimus, ließ sich der alte Herr über Philosophie aus. Ich weiß nun nicht, ob etwa auch du sagen wirst, Hermotimus, es sei schon genug, wenn wir Philosophie treiben, weil wir dann nichts Schlimmeres tun. Ich habe noch nicht vergessen, daß wir uns anfangs ganz andere Hoffnungen von ihr machten. Oder versprachen wir uns nicht, durch sie edlere und bessere Menschen zu werden, als die Ungebildeten es sind? Warum gibst du mir schon wieder keine Antwort ? HERMOTIMUS: Was kann ich dir antworten? Ich möchte lieber weinen, so tief fühle ich, wie wahr und vernünftig alles ist, was du mir gesagt hast. Ist es nicht erbärmlich, daß ich Unglückseliger einen so großen Teil meines Lebens verloren und für all die Mühe, die ich mir gegeben, noch so viel Geld bezahlt habe ? Und nun ist es mir, als ob ich aus einem derben Rausch erwache und sehe, an was für einen unwürdigen Gegenstand ich meine Liebe verschwendet, und wieviel Leid ich mir dadurch selbst getan habe! LYCINUS: Was könnte es dir helfen, mein Bester, die bittersten Tränen über eine Sache zu weinen, die nun einmal nicht mehr zu ändern ist? Mich dünkt, es sei ein sehr verständiger Rat, den uns Äsop in einer seiner Fabeln gibt: «Ein Mensch», sagt er, «saß am Ufer des Meeres bei der Brandung und zählte die Wellen. Als er sich verzählt hatte, wurde er ärgerlich und betrübt. Endlich sagte ein Fuchs, der dabeistand: ,Was kümmerst du dich so sehr um die Wellen, die schon vorüber sind ? Fange lieber von vorn an und zähle die, die jetzt entstehen, und kümmere dich um die anderen nicht mehr.'» So, mein Freund, denke ich, solltest du es machen. Laß, was vorüber ist, gut sein und lebe dafür die Zeit, die du noch zu leben hast, ein Leben wie andere Leute, gehe deinen bürgerlichen Geschäften nach, laß die ungereimten, schwülstigen Hoffnungen fahren und, wenn du auch schon bei Jahren bist, schäme dich nicht, deinen Sinn zu ändern und den besseren Weg einzuschlagen. Denke übrigens nicht, lieber Freund, daß sich das, was ich gesagt habe, auf die Stoa besonders bezieht und aus einem Groll herrührt, den ich gegen die Schule habe. Es gilt von allen Philosophieschulen insgesamt, und ich hätte dir das nämliche gesagt, wenn du ein Anhänger der platonischen oder aristotelischen Schule gewesen wärest und alle übrigen so einseitig und ohne Untersuchung verworfen hättest. Meine Rede schien dir bloß deswegen gegen die Stoiker gerichtet, weil du ihnen den Vorzug gegeben hattest. Ich habe nichts Besonderes gegen sie. HERMOTIMUS: Gut! Ich verlasse dich nun, um mein neues Leben gleich damit anzufangen, daß ich mein Äußeres ändere. Du sollst diesen langen Zottelbart gar bald verschwunden und die von dir getadelte Lebensweise mit einer behaglicheren und freieren vertauscht sehen. Ich will bald sogar ein Purpurkleid anziehen, damit jedermann sieht, daß ich mit jenen Torheiten nichts mehr zu schaffen habe. Wolle Gott, ich wüßte ein Brechmittel, um all das unnütze Zeug, das ich bei ihnen gehört habe, auf einmal loszuwerden! Ich versichere dir, ich wollte mich nicht lange bedenken, zweimal soviel Nieswurz zu verschlucken als Chrysippus, wenn ich mein Gedächtnis dadurch von ihrem ganzen Kram reinfegen könnte. Ich bin dir für den Dienst, den du mir heute erwiesen hast, lieber Lycinus, keinen geringen Dank schuldig. Du bist erschienen, ehe es zu spät war, wie die Götter, die man in den Tragödien aus den Wolken herabsteigen sieht. Aus dem trüben, reißenden Waldstrom, in den ich gefallen war und der mich schon gewaltsam mit sich fortwälzte, hast du mich noch lebendig herausgezogen. Ich kann also auch, denke ich, nicht weniger tun, als — wie die aus einem Schiffbruch Geretteten — mir die Haare abscheeren lassen und den heutigen Tag, der einen so dicken Nebel von meinen Augen abgeschüttelt hat, durch ein festliches Dankopfer für meine Rettung begehen. Und wenn ich künftig jemals wieder einem Philosophen von Beruf auf der Straße begegne, werde ich mich von ihm wegwenden und ihm aus dem Wege gehen wie einem tollwütigen Hunde.